Rieser Nachrichten

Die Deutschen und ihre Mythen

Aus welchen Ereignisse­n entsteht kollektive­r Zusammenha­lt? Das Haus der Geschichte in Bonn hat Beispiele zusammenge­tragen – und dabei Überrasche­ndes zutage gefördert

- Deutsche Mythen seit 1945

Bonn Eine bekannte Stimme begrüßt den Besucher im Bonner Haus der Geschichte: „Aus dem Hintergrun­d müsste Rahn schießen. Rahn schießt.“Der Rest fehlt, aber viele können in Gedanken weiterspre­chen: „Tor, Tor, Tor, Tor! Tor für Deutschlan­d!“Es sind die berühmten Sätze des Radiorepor­ters Herbert Zimmermann beim WM-Finale 1954. Der Titelgewin­n neun Jahre nach Kriegsende ist legendär – doch er wurde das erst Jahrzehnte später.

Das zeigt die ab Freitag geöffnete Ausstellun­g „Deutsche Mythen seit 1945“. 1954 brachten die Zeitungen nur am Tag nach dem Spiel größere Artikel, dann brach die Berichters­tattung erst einmal ab. In den 1970er und 1980er Jahren erinnerte man nur noch sehr sporadisch an das Spiel. Mythische Proportion­en wuchsen dem Ereignis erst in den 90er Jahren und dann vollends 2003 durch Sönke Wortmanns Kinofilm „Das Wunder von Bern“zu. Dreimal habe Bundeskanz­ler Gerhard während der Vorführung geweint, berichtete Wortmann. Es gab sogar kleine Steine aus dem 2001 abgebroche­nen Berner Stadion Wankdorf zu kaufen. Ein Mythos war geboren – mit etlichen Jahren Verspätung. Denn erst jetzt war das demokratis­ch gefestigte und wiedervere­inigte Deutschlan­d selbstbewu­sst genug, das Spiel als eine Art nationale Wiedergebu­rt zu feiern.

Unter Mythen versteht das Haus der Geschichte dabei keine Märchen, keine „Fake News“, sondern „Erinnerung­skonstrukt­ionen“. Ereignisse, die Teil der kollektive­n Erinnerung wurden und dadurch die nationale Identität mitbestimm­en. Solche Mythen hätten immer einen wahren Kern. Oft vereinfach­ten sie aber die historisch­e Wahrheit, erläutert der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, Hans Walter Hütter: „Vielleicht haben sie gerade deshalb eine so große Wirkung.“Ein Beispiel ist für Hütter die deutsche Wiedervere­inigung. Hier erscheine die Entwicklun­g von den Leipziger Montagsdem­os über den Mauerfall bis zur Einheitsfe­ier am 3. Oktober 1990 im Rückblick fast als Automatism­us – dabei hätte alles auch ganz anders kommen können.

Viele Mythen kommen und gehen, manche werden auch gezielt dekonstrui­ert. Etwa die Idee der „Stunde Null“bei Kriegsende. Die 68er gingen dagegen heftig an. Ihr Argument: Viele Wirtschaft­sgrößen, Juristen und sogar Nazi-Funktionär­e hatten sich aus dem „Dritten Reich“in die Bundesrepu­blik hinüberger­ettet; von einem völligen Neuanfang könne also keineswegs die Rede sein. Mit der Zeit setzte sich diese Sicht weitgehend durch. Dabei, so argumentie­rt der Wirtschaft­shistorike­r Werner Plumpe in einem Beitrag für den Ausstellun­gsSchröder katalog, spricht vieles eben doch für einen radikalen Schnitt: Die Bonner Republik – demokratis­ch, westlich, katholisch – hatte mit dem Deutschen Reich nicht mehr viel zu tun.

Keine identitäts­stiftenden Mythen hat bislang Europa entwickelt, wie die Ausstellun­gsmacher feststelle­n. Versuche, die EU als Friedensga­rant oder Wertegemei­nschaft darzustell­en, fänden kaum Widerhall. Der polnische Historiker Włodzimier­z Borodziej kann sich allerdings vorstellen, dass die EU zum Mythos würde, sobald es sie nicht mehr gäbe. Im Rückblick würde sie dann womöglich als das Goldene Zeitalter erscheinen, als Epoche politische­r Freiheit, friedliche­r Zusammenar­beit und großen Wohlstands.

Christoph Driessen, dpa

Historisch­e Wahrheit wird nicht selten vereinfach­t

OBis zum 14. Oktober im Haus der Geschichte in Bonn. Geöffnet Di – Fr von 9 – 19 Uhr, Sa und So von 10 – 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.

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Fotos: dpa, HdG Der Weltmeiste­rtitel der Fußballer 1956, der VW Käfer als rollendes Symbol des Wirtschaft­swunders, Josef Ratzinger, der zum Papst gewählt wird: Momente, über die die Deutschen sich einig sind wie selten sonst. Die Objekte sind Bestandtei­le einer...

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