Das Leben in der Warteschlange
Jeder von uns kennt diese Momente, in denen wir tief durchatmen müssen, um uns selbst daran zu erinnern, dass Mord illegal ist. Neulich war es wieder so weit. Im Supermarkt wollte ich eine Flasche Öl kaufen und fand mich am Ende einer langen Schlange an der Kasse wieder. Netterweise ließ mich ein Herr mit vollem Einkaufswagen vor (solche Leute begehen keine Morde, sie kommen direkt in den Himmel). Noch vor mir: eine junge Mutter samt Quälgeist und eine Rentnerin. Ruckzuck bezahlte die Mutter. Die Rentnerin aber sollte noch eine Herausforderung werden.
Dose für Dose legte sie das Katzenfutter aus ihrem Rollator auf das Warenband. In der Zwischenzeit löste der Herr hinter mir sämtliche Kreuzworträtsel am Zeitungsstand und ich schickte mein erstes Gebet gen Himmel. Die Rentnerin vor mir suchte nach ihrem Geldbeutel und suchte und suchte. „8,49 Euro macht das dann bitte“, sagte die Kassiererin. Die Rentnerin: „Warten Sie, ich hab es passend.“Die Schlange stöhnte. Während die Leute hinter mir anfingen, Zelte aufzuschlagen und ein Lagerfeuer zu entzünden, öffnete die Dame ihr Portemonnaie und leerte den Inhalt aus. Es klimperte und rollte und wollte gar nicht aufhören. Dann begann sie, das Geld von den Einkaufswagen-Chips auszusortieren.
Mittlerweile bildeten sich hinter mir in der Schlange einzelne Clans. Die Tupperware-Vereinigung kämpfte mit der Coppenrath-Tiefkühl-Brigade um die Wasservorräte. Bis die Sieger der Schlacht ausgemacht und die Verwundeten versorgt waren, hatte die Rentnerin 7,44 Euro zusammen. Dann war es endlich so weit. Nachdem die schwangere Frau am Ende der Schlange zwei gesunde Mädchen auf die Welt gebracht hatte, knackte die Rentnerin die Acht-EuroMarke. Mit einem prüfenden Blick nach vorne wurde mir klar: Die Dame hat keine 49 Cent mehr. Schnell musste ich handeln: Ich gab der Kassiererin den Restbetrag und das Geld für mein Öl und lief – ohne einen Blick zurückzuwerfen.