Rieser Nachrichten

Die Spende meines Lebens

Knapp acht Millionen Deutsche sind als freiwillig­e Stammzells­pender registrier­t. Wie fühlt es sich an, plötzlich als Lebensrett­er gebraucht zu werden? Die Geschichte einer überrasche­nden E-Mail, großer Emotionen und noch größerer Hoffnung

- VON ANNA MUNKLER Die Autorin Anna Munkler ist freie Journalist­in und lebt im Oberallgäu.

München Die Nachricht kommt völlig unerwartet. Ich sitze am Laptop, als mein E-Mail-Postfach einen neuen Eingang meldet. „DRINGEND!“steht in der Betreffzei­le. Die Stiftung Aktion Knochenmar­kspende Bayern (AKB) teilt mir mit, ich komme als Stammzells­penderin für einen Leukämie-Patienten in Frage. Ungläubig prüfe ich, ob es sich nicht um eine Spam-Nachricht handelt. Ich suche meinen Knochenmar­kspender-Ausweis und vergleiche die Spendernum­mern. Kein Zweifel: Irgendwo da draußen gibt es jemanden, dem ich helfen kann. Dem ich vielleicht das Leben retten kann. Mehr als acht Jahre nach meiner Registrier­ung.

Die ganze Geschichte beginnt 2009. In diesem Jahr bekommt die Familie des drei Monate alten Luis Laurin aus dem Allgäu eine erschütter­nde Diagnose: Der Bub hat Blutkrebs, seine einzige Chance ist eine Knochenmar­ktransplan­tation. Aber weder in seiner Familie noch im weltweiten Register findet sich ein passender Spender. Die Eltern von Luis setzen alles in Bewegung und starten gemeinsam mit der AKB eine groß angelegte Kampagne.

Ich lese die Geschichte von Luis in der Zeitung und gehe an einem Wochenende im Dezember zum Roten Kreuz, um mir Blut abnehmen zu lassen. Auch 8424 andere Menschen kommen zu den Typisierun­gsterminen nach Kempten, Augsburg, Memmingen und Landsberg, sie alle wollen Luis helfen. Sämtliche Angaben werden in die Datei der AKB aufgenomme­n, gespeicher­t und anonymisie­rt ans Zentrale Knochenmar­kspender-Register Deutschlan­d in Ulm weitergele­itet. Dort schlummern sie jahrelang. Bis irgendwo auf der Welt ein Mensch an Leukämie erkrankt. Ein Mensch, der dieselben Gewebemerk­male hat wie ich.

Und nun liegt diese E-Mail in meinem Postfach. Ich rufe gleich bei der AKB an. Natürlich will ich immer noch spenden, sage ich am Telefon, und bekomme einen Termin für eine Blutentnah­me zur Bestätigun­gstypisier­ung. Obwohl ich weiß, dass noch längst nicht klar ist, ob es wirklich zu einer Spende kommen wird, bin ich schon jetzt aufgeregt. Ich fühle mich wie eine Lottogewin­nerin. Fast acht Millionen Menschen sind in Ulm anonym registrier­t, 2017 haben davon knapp 7000 tatsächlic­h Stammzelle­n gespendet. Als ich mich an den Gedanken gewöhnt habe, dass ausgerechn­et ich vielleicht ein Leben retten kann, mache ich mich kundig, was genau hinter einer Stammzells­pende steckt.

Die meisten werden für Menschen benötigt, die an Leukämie leiden. Bei ihnen reifen einige weiße Blutkörper­chen nicht vollständi­g aus, teilen sich sehr schnell und verdrängen die gesunden Blutbestan­dteile. Viele Leukämie-Patienten haben nur noch eine Chance: den Komplettau­stausch ihres außer Kontrolle geratenen blutbilden­den Systems. Dazu werden gesunde Stammzelle­n benötigt, die für die Bildung aller Blutbestan­dteile zuständig sind. Damit die Transplant­ation gelingen kann, müssen be- Gewebemerk­male von Spender und Empfänger übereinsti­mmen. Im weltweiten Spendernet­zwerk mit mehr als 32 Millionen Registrier­ten wird heute für neun von zehn deutschen Patienten ein „genetische­r Zwilling“gefunden. Doch die Vielfalt der Merkmalsko­mbinatione­n ist so groß, dass einige Kranke vergeblich warten.

Vier Wochen nach der Blutentnah­me bekomme ich von der AKB wieder eine Mail. Das Transplant­ationszent­rum habe mich tatsächlic­h als Spenderin angeforder­t. Die Aufregung, die sich in den letzten Wochen ein wenig gelegt hat, ist sofort wieder da. Gleichzeit­ig bin ich erleichter­t, weil in der Mail auch steht, dass eine periphere Stammzells­pende angefragt wurde. Diese Form der Stammzelle­ntnahme, ambulant über eine Art Blutwäsche, wird heute in 80 Prozent der Fälle durchgefüh­rt. Nur noch einem Fünftel der Spender wird unter Vollnarkos­e Knochenmar­k aus dem Becken entnommen.

Zur Voruntersu­chung fahre ich zur AKB nach Gauting bei München. Die Spenderamb­ulanz der Stiftung liegt auf dem Gelände einer Privatklin­ik. Die Räume sind hell und freundlich, an den Wänden hängen sauber gerahmt Zeitungsar­tikel und anonyme Briefwechs­el zwischen Spendern und Empfängern. Es riecht nach Arztpraxis, aber es fühlt sich nicht nach Krankheit an. In den fünf Stunden Untersuchu­ng und Aufklärung lerne ich drei gut gelaunte Ärzte der Spenderamb­ulanz, einige andere Mitarbeite­r und einen zweiten künftigen Spender kennen.

Jedes Jahr betreut die AKB zwischen 300 und 400 Spender, verarbeite­t Stammzellp­räparate und bringt sie in Transplant­ationsklin­iken in aller Welt. Hier wird mir bewusst, dass ich nur ein kleines Rädchen in der sehr komplexen Lebensrett­er-Maschineri­e bin. Ein Rädchen. Aber für einen ganz bestimmten Menschen das entscheide­nde.

Je näher die Spende rückt, desto öfter stelle ich mir die Frage, wer dieser Mensch ist. Aus rechtliche­n und ethischen Gründen ist die Spende anonym. Erst nach einer Sperrfrist können der Empfänger und ich ein paar Daten voneinande­r erfahstimm­te ren. Wenn wir beide es wollen und die Rechtslage in der Heimat des Empfängers es zulässt, dürfen wir dann auch anonym Briefe austausche­n und uns vielleicht nach zwei Jahren persönlich kennenlern­en.

Bisher kann ich aus den Aussagen der AKB-Mitarbeite­r und dem, was ich gelesen habe, nur wenig ableiten. Der Empfänger oder die Empfängeri­n meiner Zellen ist höchstwahr­scheinlich erwachsen, hellhäutig und nicht übergewich­tig. Diese Informatio­nen helfen mir, falls sie überhaupt stimmen, nicht weiter. Also entsteht in meinem Kopf ein eigenes Bild. Vor meinem inneren Auge ist der Empfänger ein Mensch in einem Krankenbet­t. Ich kann weder das Gesicht erkennen noch, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Neben dem Bett sitzen andere Personen und blicken mich an. Die Szene strahlt Traurigkei­t aus und Angst, aber auch große Hoffnung. Auf seltsame Weise fühle ich mich diesen Menschen, über die ich überhaupt nichts weiß, tief verbunden.

Einige Tage nach der Voruntersu­chung bekomme ich die Nachricht, dass ich definitiv gesund und zur Spende freigegebe­n bin. In meinem Kopf herrscht Chaos. Freude und Angst, Stolz und Sorge vermischen sich zu diffusen Gefühlen. Ich schlafe schlecht, träume wirr und wache mitten in der Nacht auf, weil mir der Gedanke gekommen ist, dass der Empfänger künftig meine DNA im Blut haben wird.

Es gibt kein anderes Thema mehr für mich. Selbst Menschen, die mich in der Bahn in ein Gespräch verwickeln, müssen sich meine Loblieder auf die Medizin anhören. Mit den Menschen, die mir näherstehe­n, teile ich auch meine Ängste und Zweifel. Ganz allein bin ich aber mit dem Druck der Verantwort­ung. Mir wurde eindringli­ch erklärt, dass ich rechtlich gesehen jederzeit zurücktret­en könne. Doch zehn bis zwölf Tage vor der Spende wird der Empfänger auf die Transplant­ation vorbereite­t, sein Immunsyste­m wird systematis­ch zerstört. Wenn die lebensrett­enden Stammzelle­n dann nicht kommen, hat er keine Chance. Würde ich den Vorgang abbrechen, käme das einem Todesurtei­l gleich.

Ich bin fast erleichter­t, als ich vier Tage vor der Spende mit der sogenannte­n Mobilisier­ung beginnen darf. Bisher war meine Rolle passiv: zuhören, verstehen, untersuche­n lassen, zustimmen. Jetzt kann ich erstmals aktiv meinen Teil dazu beitragen, dass alles klappt. Vier Tage lang muss ich mir zweimal täglich einen Botenstoff spritzen, der die Stammzellp­roduktion anregt. Die Spritzen und die Nebenwirku­ngen, die noch vor einigen Wochen meine größte Angst waren, stellen sich als halb so schlimm heraus.

Für die erste Spritze gehe ich zum Hausarzt, wo mir eine Arzthelfer­in gut zuredet. Den Rest schaffe ich allein. Das Mittel meldet meinem Körper eine vermeintli­che Infektion, dementspre­chend krank fühle ich mich. Aber alles in allem habe ich Glück: Ich benötige kaum Schmerztab­letten und die 24-Stunden-Notrufnumm­er der AKB muss ich auch nicht wählen.

Dann ist er endlich da, der sogenannte Tag null. Der Blutspende­dienst des Roten Kreuzes in München führt für die AKB meine Stammzelle­ntnahme durch. Ich kann es kaum erwarten, dass endlich alles vorbei ist. Die letzten Stunden werden dann doch schwierige­r als erwartet. Meine Venen spielen nicht mit, der Druck ist zu niedrig. Immer wieder schlägt der mannshohe Apparat, an den ich über zwei Schläuche in den Armvenen angeschlos­sen bin, Alarm. Eine Ärztin und zwei Pfleger ziehen und drücken an den Schläuchen, die in meinen Armen stecken, jede neue Einstellun­g verschafft mir nur eine Weile Ruhe. Erst nach zweieinhal­b Stunden kommt mit den aktuellen

In Ulm sind Millionen Daten zentral registrier­t

Nach zweieinhal­b Stunden sagt die Ärztin: Alles gut

Laborwerte­n die beruhigend­e Nachricht: Die Ärztin ist mit den Blutwerten zufrieden, mein Knochenmar­k hat in den letzten Tagen gute Arbeit geleistet. Eine Stunde noch, dann sind genügend Stammzelle­n gewonnen.

Mit jedem Tropfen, der in den Kunststoff­beutel an der Maschine fließt, fällt ein wenig Druck von mir ab. Als die Pfleger endlich vorsichtig die Schläuche aus meinen schmerzend­en Armen ziehen, ist das gesamte Blut meines Körpers etwa zwei Mal durch die Maschine gelaufen. Dabei wurden 674 Millionen Stammzelle­n gewonnen, die jetzt ein Kurier innerhalb von 48 Stunden zum Empfänger bringt. Ich bin müde und erleichter­t, dass der weitere Lauf des Schicksals nicht mehr in meiner Hand liegt. Jetzt kann ich nur hoffen, dass mein neuer Blutsbrude­r oder meine Blutsschwe­ster die riskante Behandlung gut übersteht und gesund weiterlebe­n kann. Und dass wir uns irgendwann vielleicht sogar kennenlern­en können.

Sicher hat die Person, die vor gut acht Jahren für den kleinen Luis Knochenmar­k gespendet hat, genauso inständig darauf gehofft, dass alles gut geht. Leider hat der tapfere Bub trotz allem seinen Kampf gegen die Leukämie verloren. Doch er hinterläss­t ein außergewöh­nliches Vermächtni­s: Ich bin bereits der 101. Mensch, der dank Luis einem Menschen die Chance auf ein neues Leben schenken durfte. Bestimmt werden noch viele weitere folgen.

 ?? Foto: Katrin Lempert ?? „Mit jedem Tropfen, der in den Kunststoff­beutel an der Maschine fließt, fällt ein wenig Druck von mir ab.“Unsere Autorin bei der Stammzells­pende.
Foto: Katrin Lempert „Mit jedem Tropfen, der in den Kunststoff­beutel an der Maschine fließt, fällt ein wenig Druck von mir ab.“Unsere Autorin bei der Stammzells­pende.

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