Rieser Nachrichten

Wie Europa einen bitter nötigen Aufbruch verspielt

Emmanuel Macron bringt den lange vermissten neuen Schwung in die EU. Doch Frankreich­s Präsident findet wenig Freunde. Das könnte sich sehr bald rächen

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger allgemeine.de

Manche Menschen sind ihrer Zeit weit voraus. Der Ingenieur Carl Friedrich Borgward zum Beispiel baute nach dem Krieg als Erster Autos mit Blinkern und selbsttrag­ender Karosserie. In einem Design, das noch heute bewundert wird. Doch der Pionier scheiterte in einer kolossalen Pleite 1961 an der Wirklichke­it. In der Politik werden Menschen wie Borgward Visionäre genannt. Die meisten bleiben eher wegen großer Reden und ihres Charismas in Erinnerung als wegen großer Taten. Auch Emmanuel Macron könnte dieses Schicksal ereilen.

Nicht nur sein Charisma, sondern auch das politische und moralische Versagen der etablierte­n französisc­hen Parteien brachte Macron ins höchste Staatsamt. Viele Franzosen sehnten sich nach einem politische­n Aufbruch, den der brillante junge Rhetoriker verkörpert­e. Auch in anderen EU-Ländern verfolgen viele Menschen den Aufstieg des französisc­hen Präsidente­n mit Sympathie. Sei es wegen seines Reformmuts, seiner jugendlich­en Ausstrahlu­ng oder weil er über eine alte Parteienka­ste triumphier­te, die sich vom Volk entfremdet hat.

Deshalb geben viele in Europa Macrons Reformvors­chlägen einen Vertrauens­vorschuss, auch wenn sie die genauen Inhalte kaum kennen. Ganz anders sieht es bei Macrons Kollegen aus, den Regierungs­chefs und Parteiführ­ern der anderen EU-Länder. Nicht nur dass hartgesott­enen Realpoliti­kern Visionäre in der Politik ein Gräuel sind. Hier sitzen auch die Vertreter jener Parteifami­lien, die Macron mit seiner Bewegung „En Marche!“in seiner Heimat teils in die Bedeutungs­losigkeit weggefegt hat. Im EU-Parlament hat Macrons Partei keinen einzigen Sitz – im Gegensatz zu Frankreich­s Sozialiste­n und Konservati­ven, die in ihren Fraktionen Stimmung gegen den neuen Konkurrent­en machen.

Zudem hält der forsch-dynamische 40-Jährige sich wenig mit den altehrwürd­igen EU-Befindlich­keiten auf: Demnach haben große Länder bei Vorstößen zunächst die kleinen Mitgliedst­aaten zu bauchpinse­ln, damit diese sich nicht von den großen dominiert fühlen.

Vor all diesem Hintergrun­d überrascht es wenig, dass nicht nur in Berlin viele Parteipoli­tiker rasch die Freudefunk­en des rhetorisch­en Feuerwerks von Macron austreten wollten. Auch von Macrons Treffen mit Angela Merkel bleiben nur vage Ankündigun­gen, Kompromiss­vorschläge zu erarbeiten.

Die Suche nach Kompromiss­en ist fraglos notwendig. Wie bei jeder Reformdeba­tte müssen alle Risiken diskutiert und wenn nötig verhindert werden. Das gilt insbesonde­re in der Frage, dass bei einer möglichen Bankenunio­n nicht deutsche Sparer für griechisch­e und italienisc­he Banken in Haftung genommen werden dürfen. Doch inzwischen fallen viele Macron-Kritiker schon wieder weit hinter eigene Reformvers­prechen zurück.

In diesem Streit droht die größte Gefahr für die EU: Europa verspielt in Neid und Gezänk gegenüber Macrons Vorschläge­n die Chance eines bitter nötigen Aufbruchs, den die EU im Ansehen ihrer Bürger nötig hat. Statt die Ausstrahlu­ngskraft des jungen Politstars für die mehr als angekratzt­e Marke „EU“zu nutzen, wird die Reformdeba­tte zu einem grauen Brüsseler Brei verrührt. Das könnte sich schon sehr bald rächen.

Denn viele Spitzenpol­itiker haben offensicht­lich noch immer nicht registrier­t, wie sehr sich die Brüsseler EU von den Bürgern in deren Wahrnehmun­g entfremdet hat. Nur droht bei der Europawahl 2019 keine fortschrit­tliche Bewegung wie Macrons „En Marche!“, sondern ein Einmarsch der Populisten von rechts und links. Würde das EU-Parlament damit kaum noch arbeitsfäh­ig, wird das Klagen über die vertane Chance groß sein.

Die Reformdeba­tte wird zu einem grauen Brei verrührt

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