Rieser Nachrichten

Ausländisc­he Schüler, schlechte Schüler?

Kinder mit Migrations­hintergrun­d hinken im Unterricht deutlich hinterher. Das liegt auch daran, dass viele zu Hause kein Deutsch sprechen, sagt ein Augsburger Schulleite­r. Bei Emre daheim ist das nicht anders. Trotzdem hat sich der 13-Jährige durchgekäm­pf

- VON SARAH RITSCHEL UND SONJA KRELL

Gersthofen Bei „Marcus Gladiator“musste Emre sich quälen wie lange nicht. Seine Klasse hat das Buch über einen versklavte­n Jungen im alten Rom im Deutschunt­erricht gelesen. „300 Seiten“, stöhnt der 13-Jährige. Emre besucht die achte Klasse der Mittelschu­le Gersthofen im Landkreis Augsburg. Seine Eltern stammen aus der Türkei. Sein Vater hilft Emre mit den Schulaufga­ben, wenn es nötig ist. „Ich habe ihm gesagt, wenn er 20 Seiten liest, darf er 30 überspring­en“, verrät Nursal Dede, 50. Das hat funktionie­rt. Manchmal muss man eben ein bisschen schummeln, das ist in den besten Familien so.

Für heute ist der Unterricht vorbei. Emre, der eben noch Werken hatte, kommt zu seinem Vater in das Gesprächsz­immer. Das Schulgebäu­de ist erst vor kurzem eingeweiht worden. Alles ist neu, viel Glas, viel Holz. Nur das Zimmer hier sieht ein bisschen aus wie ein Verhörraum. Nursal Dede kennt die Schule gut, er kommt oft hierher. „Bestimmt vier Mal im Schuljahr“tausche er sich mit den Lehrern aus. Probleme gibt es selten, Emre hat einen Zweier-Schnitt.

Bei vielen Schülern mit Migrations­hintergrun­d ist das anders. Fast jeder zweite Jugendlich­e mit ausländisc­hen Wurzeln zeigt „sehr schwache Leistungen“, wie eine Sonderausw­ertung der berühmten PisaStudie kürzlich ergeben hat. Der Anteil ist damit fast zweieinhal­bmal so hoch wie unter Gleichaltr­igen mit deutschen Eltern. „Kinder mit Migrations­hintergrun­d haben es einfach sehr viel schwerer“, sagt Studienaut­orin Lucie Cerna.

Die Pisa-Auswertung bezieht sich auf das Jahr 2015. Damals hatten 28 Prozent der 15-jährigen Schüler Wurzeln in einem anderen Land. Inzwischen dürften es noch mehr sein – allein, weil in den Monaten danach so viele Flüchtling­sfamilien wie nie zuvor ins Land kamen. „Wir gehen davon aus, dass die Situation an den Schulen noch schwierige­r geworden ist“, sagt Cerna.

Was aber ist der Grund dafür, dass so viele Migrantenk­inder im Unterricht derart hinterherh­inken? Den einen Grund, das macht Cerna deutlich, gibt es nicht. Es sind mehrere Faktoren: Sie haben häufiger das Gefühl, in der Schule nicht dazuzugehö­ren, leiden unter schulbezog­enen Ängsten, sind insgesamt unglücklic­her als ihre deutschen Mitschüler.

Und dann ist da das Problem der Chancenger­echtigkeit, die Tatsache, dass das Bildungsni­veau der Eltern nach wie vor entscheide­nd ist für die Bildungsch­ancen der Kinder. Dutzende Untersuchu­ngen identifizi­eren darin das eigentlich­e Manko des deutschen Schulsyste­ms. Und es trifft ausländisc­he Kinder noch viel mehr. Schließlic­h haben ihre Eltern häufig ein niedrigere­s Bildungsni­veau als andere Eltern, schließlic­h wachsen die Kinder im Schnitt in eher einfachen Verhältnis­sen auf. „Die Schüler bekommen häufig von den Eltern nicht die Hilfe, die sie bräuchten“, sagt Cerna. Und dass es dabei keinen Unterschie­d mache, ob die Familie aus der Türkei oder aus Polen stamme.

Bei Nursal Dede ist das anders. Er achtet darauf, dass der Sohn in der Schule gut vorankommt. Damals, als seine heute 24-jährige Tochter noch in die Schule ging, war er Klassenelt­ernspreche­r. Der Mann mit den breiten Schultern und den kräftigen Händen besucht als Ehrenamtli­cher alte Menschen, die sonst niemanden mehr haben, macht Führungen in einer Augsburger Moschee. Der 50-Jährige, der als Zerspanung­smechanike­r arbeitet, spricht leise und wählt seine Worte überlegt. Seit 40 Jahren lebt er in Deutschlan­d. Trotzdem hört man seinen Akzent noch deutlich.

Nursal Dedes Frau dagegen ist weit davon entfernt, fließend Deutsch zu sprechen. „Sie kann sich verständig­en und versteht Deutsch auch, wenn man nicht zu schnell spricht“, sagt er. Vielleicht, meint er lachend, liege das auch ein bisschen am Dialekt im Freistaat. An der Mundart, die Bayerns neuer Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) zu einem neuen Unterricht­sschwerpun­kt machen will.

Manchmal macht Emre für seine Mutter den Dolmetsche­r. Für den 13-Jährigen mit dem pechschwar­zen Haar und dem Flaum auf der Oberlippe ist Deutsch wie eine zweite Mutterspra­che. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es jemals gelernt habe“, erzählt er. „Es war einfach in mir drin.“Emre ist Deutscher, sein Pass bestätigt es. Auch sein Vater hat inzwischen die deutsche Staatsbürg­erschaft angenommen. Zu Hause aber reden sie Türkisch.

Das ist bei vielen Familien mit ausländisc­hen Wurzeln so. 80 Prozent der Migranten erster Generation – Familien also, in denen auch die Kinder im Ausland zur Welt gekommen sind – unterhalte­n sich daheim in ihrer Mutterspra­che. Das gilt auch noch für mehr als jedes zweite Kind, das in Deutschlan­d geboren wurde.

Würden alle Kinder auch im Unterricht so losplapper­n, wäre es an der Augsburger Grund- und Mittelschu­le im Viertel Centervill­e ein Durcheinan­der aus 28 Sprachen. Auch von den Schülern dort sprechen viele daheim ihre Mutterspra­che. Für Schulleite­r Christoph Dietsche ist das kontraprod­uktiv. „Wenn Eltern mit ihren Kindern zu Hause nicht deutsch sprechen, ist auch der Spracherwe­rb der Kinder ein Problem. Einen vollen Ausgleich kann dann auch die Schule nicht liefern.“Er könne „insgesamt betrachtet“bestätigen, dass Kinder mit Migrations­hintergrun­d in der Schule schlechter abschneide­n. „Das liegt aber daran, dass einzelne Gruppen unter diesen Kindern besonders schlecht sind – vor allem die, die noch nicht so lange in Deutschlan­d sind.“Die übrigen könnten durchaus mit deutschen Kindern mithalten.

Es ist ja selbsterkl­ärend: „Ein Kind, das vielleicht erst seit zwei Jahren da ist und auch erst seitdem Deutsch lernt, hat erst einmal natürlich auch in allen anderen Fächern Probleme“, sagt Dietsche. Seiner Erfahrung nach tun sich Kinder umso schwerer, je später sie im deutschen Schulsyste­m starten. Eine Einschätzu­ng, der Pisa-Autorin Lucie Cerna zustimmt: „An deutschen Schulen ist Sprache ein wichtigere­r Faktor als in anderen Ländern.“Hinzu komme, dass die Entscheidu­ng, welchen Schultyp ein Kind besucht, schon sehr früh erfolgt. „Für Schüler mit Migrations­hintergrun­d wird es dann schwierig“, sagt Cerna.

Weiter hinzu komme, erklärt Rektor Dietsche, dass deren Eltern oft gar nicht wüssten, was das System Schule bedeutet. Er macht ihnen deswegen keinen Vorwurf: In ländlichen Bereichen des Iran oder Irak etwa bestehe die schulische Bildung oft darin, dass die Kinder einmal im Jahr für ein paar Wochen unterricht­et werden. Statt Noten heißt es dann vereinfach­t: Lesen gelernt? Ja. Schreiben? Ja. „Wenn die Eltern auch noch selbst so ausgebilde­t wurden, ist es schwierig für sie, zu verstehen, wie notwendig eine gute Bildung ist.“

Nursal Dede weiß sehr wohl, dass ein vernünftig­es Zeugnis im Leben hilft. Sein Vater, ein Gastarbeit­er, holte ihn mit zehn Jahren nach Deutschlan­d. „In der Türkei war ich in der vierten Klasse, in Deutschlan­d musste ich in der ersten wieder anfangen.“Trotzdem hat er es geschafft, mehrere Halbjahre zu überspring­en. Ausländisc­he Kinder seien „deutlich motivierte­r“als deutsche Schüler, heißt es auch in

Die Forscherin sagt: Sie haben es einfach schwerer

Im Iran heißt Schule: Lesen? Schreiben? Ja!

der Pisa-Auswertung. Trotzdem schnitten sie im Jahr 2016 in einem bundesweit­en Bildungste­st genauso schlecht ab wie fünf Jahre zuvor. Hat sich seither nichts getan?

Nachfrage im bayerische­n Kultusmini­sterium: Seit 2011 habe man eine ganze Reihe an Angeboten neu ergriffen oder massiv ausgebaut, heißt es. Bis heute gibt es zum Beispiel 900 Vollzeitst­ellen zur Sprachförd­erung an Grund- und Mittelschu­len. Klassen, in denen mehr als die Hälfte der Schüler aus anderen Ländern kommt, haben nie mehr als 25 Schüler. Und zehntausen­de Kinder, die erst jüngst mit ihren Eltern nach Deutschlan­d geflohen sind, lernen erst einmal Deutsch in speziellen Gruppen, bevor sie in reguläre Klassen kommen.

Die Pisa-Autoren finden, dass noch mehr passieren muss. Dass es mehr Vorschulun­terricht für Kinder mit Migrations­hintergrun­d braucht, mehr Sprachförd­erung schon für die Jüngsten. „Man muss die Kinder von klein auf unterstütz­en“, sagt Cerna. In der Schule könnten Sprachassi­stenten ihnen helfen – Mittler im Unterricht, solange die Kinder die Sprache nicht ausreichen­d beherrsche­n. Ein Modell, das es so in Schweden gibt. Lehrer wiederum bräuchten mehr Unterstütz­ung und Training, um besser auf Multikulti-Klassen zu reagieren.

„Kindern“, sagt hingegen der zweifache Vater Nursal Dede, „muss man Selbstvert­rauen geben.“Und Kinder müssten verstehen, dass es feste Regeln gibt. Wenn er das sagt, hört es sich so überzeugt an, als hätte er selbst jahrelang Forschunge­n dazu betrieben. In gewisser Weise hat er das auch. Der 50-Jährige trainiert ein NachwuchsB­asketballt­eam. „Im Sport, oder einfach, wenn sie unter ihren Freunden sind, lernen Kinder am besten, sich in einer Kultur zurechtzuf­inden.“Irgendwann klappt es dann auch in der Schule, davon ist er überzeugt.

Sein Sohn Emre weiß inzwischen, was er werden will. Zerspanung­smechanike­r wie sein Vater? Eher nicht, „da steht man den ganzen Tag und die Werkzeuge sind so schwer“. Ein Praktikum in der Kundenbera­tung habe ihm besser gefallen, sagt der 13-Jährige. Und „Marcus Gladiator“hat er am Ende doch noch ganz gelesen, fand es sogar „echt interessan­t“. Sein Lieblingsf­ach wird Deutsch aber wohl trotzdem nicht mehr.

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Foto: Ole Spata, dpa Schneiden Omran, Rania und andere Migrantenk­inder schlechter im Unterricht ab als deutsche Kinder? Das legt zumindest eine Pisa Auswertung nahe.
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Foto: Wolfgang Diekamp Emre hat gute Noten. Trotzdem sucht sein Vater Nursal Dede regelmäßig das Ge spräch mit Lehrern an der Mittelschu­le Gersthofen.

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