Rieser Nachrichten

„Es darf nicht sein, dass Juden wieder ihre Koffer packen“

In Berlin wurden Kippa-Träger mit einem Gürtel geschlagen. Der Publizist und Rechtsanwa­lt Sergey Lagodinsky beschreibt, wie er sich als jüdischer Deutscher in der Hauptstadt fühlt und was gegen Antisemiti­smus helfen könnte

- Sergey Lagodinsky,

Der antisemiti­sch motivierte Übergriff in Berlin schreckt Deutschlan­d derzeit auf. Herr Lagodinsky, sehen Sie die Gefahr, dass man nach einer Phase allgemeine­r Empörung wieder zur Tagesordnu­ng übergeht?

Sergey Lagodinsky: Nein. Ich glaube, dass auf der politische­n Ebene schon seit längerer Zeit einiges in Bewegung geraten ist. Früher musste man dem damaligen Regierende­n Bürgermeis­ter von Berlin erst einmal erklären, dass es für einen „sichtbaren Juden“– also zum Beispiel für jemanden, der in der Öffentlich­keit Kippa trägt – auf der Straße gefährlich sein kann. Das hat uns keiner abgenommen.

Was hat sich geändert?

Lagodinsky: Es hat eine Sensibilis­ierung stattgefun­den. Es gibt einen Arbeitskre­is zum Umgang mit Antisemiti­smus, den die zuständige Staatssekr­etärin eingericht­et hat. Dem gehöre auch ich an. Wir haben viel mehr Unterstütz­ung in der Justizverw­altung. Es gibt eine Stelle, die solche Vorfälle erfasst, abseits der Kriminalst­atistik. Die Senatorin für Bildung schaut viel genauer hin, ob es in den Schulen Übergriffe gibt. Die Frage ist nur: Können wir als politische Klasse überhaupt durchdring­en bis auf die Berliner Straßen – und darum geht es ja.

Wie fühlen Sie sich als Jude in Berlin? Lagodinsky: Ich trage zwar keine Kippa, aber es gibt schon Situatione­n, in denen man sich unwohl fühlt. Heute zum Beispiel bin ich U-Bahn gefahren. Ich habe mir auf dem Smartphone die Szene von dem Angriff auf die Kippa-Träger angeschaut. Neben mir saßen junge Männer, die arabisch sprachen. Da habe ich erst einmal geschluckt. So geht es auch jüdischen Menschen, die mit hebräische­n Büchern oder als Touristen mit kleinen israelisch­en Fähnchen unterwegs sind. Man muss ja nicht persönlich angegriffe­n werden, um Angst zu haben.

Verändern Sie oder Ihre jüdischen Bekannten und Freunde Ihr Verhalten? Lagodinsky: Viele vermeiden es eben, als sichtbare Juden auf die Straße zu gehen. Man kontrollie­rt sich. Denn es ist ja nicht so, wie viele glauben, dass es nur in so genannten Problembez­irken kritisch werden kann. Das ist stereotypi­sches Denken. Der aktuelle Fall ereignete sich im Prenzlauer Berg – in einem Bezirk also, der immer schicker wird. Ich müsste im Übrigen auch aufpassen, wenn ich nach Marzahn oder Hellersdor­f gehen würde. Dort gibt es ein rechtsextr­emes Potenzial. Laut Kriminalst­atistik gibt es noch immer mehr Gewalt gegen Juden durch Rechtsextr­eme als von Migranten. An diesen Zahlen zweifle ich allerdings etwas.

In Frankreich entschließ­en sich immer mehr Juden, nach Israel zu ziehen. Gibt es diese Stimmung auch in Ihrer jüdischen Gemeinde in Berlin? Lagodinsky: Sicher nicht so stark wie in Frankreich. Aber schon mehr als früher. Ich habe vor gar nicht langer Zeit – allerdings zum ersten Mal – erlebt, dass eine befreundet­e jüdische Familie, die schon sehr lange hier lebt und bestens gesellscha­ftlich verankert ist, solche Gedanken geäußert hat. Mit Blick auf die Kinder überlegt diese Familie, ein zweites Standbein in Israel aufzubauen. Das ist eine neue, beunruhige­nde Tendenz. Wir alle müssen aufpassen. Es darf nicht sein, dass Juden wieder ihre Koffer packen und abreisen.

Was hat sich verändert in den deutschen Städten?

Lagodinsky: Da gibt es natürlich demografis­che Veränderun­gen durch die Zuwanderun­g nach Deutschlan­d. Allerdings warne ich davor – wie jetzt wieder geschehen – reflexhaft vom Islam als Ursache der Übergriffe zu sprechen. Da gibt es Leute, die zu uns kommen, die von der konfliktre­ichen politische­n Kultur in Nahost geprägt sind und diese Konflikte nun hierher projiziere­n. Mit Religion hat das nicht immer etwas zu tun.

Muss die Erfassung antisemiti­scher Taten verbessert werden? Lagodinsky: Sicher müssen wir die Klassifizi­erung überprüfen. Viele Taten fallen durch das Raster. Wichtig ist aber, dass wir wissen, wer die Täter sind. Nur dann kann man gezielte Gegenstrat­egien entwickeln.

Welche Strategien halten Sie für erfolgvers­prechend?

Lagodinsky: Natürlich muss man langfristi­g denken. Die Frage ist aber: Was machen wir im Hier und Jetzt, um den jüdischen Familien Sicherheit zu vermitteln? Das ist schwierig. Ich glaube, wir sollten ein nachhaltig­eres Bild von Israel vermitteln. Israel ist ja viel mehr als die besetzten Gebiete und der NahostKonf­likt. Wir sollten auch zeigen, wie der Alltag der Juden in Deutschlan­d und in aller Welt ist, aber auch, was sie leisten – Schriftste­ller, Schauspiel­er oder Künstler. Für viele sind sie als jüdische Menschen aus guten Gründen unsichtbar, aber Unsichtbar­keit sorgt auch für Stereotype­n. Auf der anderen Seite benötigen wir rote Linien gegen Antisemite­n, die zu Gewalt greifen. Da wird es mit einem Kuschelkur­s nicht getan sein.

Was muss an unseren Schulen geschen? Lagodinsky: Grundsätzl­ich müssen wir darauf achten, dass neben der jüdischen Gegenwart auch die Erinnerung an den Holocaust lebendig bleibt – auch wenn die Verbrechen für Jugendlich­e heute sehr weit weg sind. Die Schüler müssen erfahren, was im Dritten Reich geschehen ist. Der Druck der vollgepack­ten Lehrpläne führt dazu, dass so mancher Lehrer das Thema auslässt. Das aber ist fatal.

OInterview: Simon Kaminski

geboren 1975 im russischen Astrachan an der Wolga, lebt seit 1993 in Deutschlan­d. Er arbeitete als Publizist für verschiede­ne Medien. 2012 wechselte Lagodinsky von der SPD zu den Grünen. Bei der parteinahe­n Böll Stiftung leitet er das Referat EU/ Nordamerik­a. Außerdem ist er in der Jüdischen Gemeinde Berlin aktiv.

 ?? Foto: M. Hitij, dpa ?? Bei einer Demonstrat­ion gegen Antisemiti­smus – wie hier in Berlin – ist es kein Ri siko, die Kippa zu tragen. Doch im Alltag kann es anders aussehen.
Foto: M. Hitij, dpa Bei einer Demonstrat­ion gegen Antisemiti­smus – wie hier in Berlin – ist es kein Ri siko, die Kippa zu tragen. Doch im Alltag kann es anders aussehen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany