Rieser Nachrichten

Erdogans gefährlich­ster Gegner

Nur der ehemalige Präsident Abdullah Gül könnte den Machthaber bei den kommenden Wahlen ernsthaft herausford­ern. Viele setzen auf ihn. Dafür gibt es gute Gründe

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Wo betet Abdullah Gül an diesem Freitag? Die Frage ist nicht unwichtig für die Zukunft der Türkei und für alle, die mit ihr zu tun haben. Der frühere Staatspräs­ident ist ein frommer Mann und besucht zum Freitagsge­bet stets eine Moschee. Wenn er etwas zu sagen hat, dann tut er das gern freitags nach dem Gebet vor der Moschee, wo deshalb immer ein Schwarm von Reportern auf ihn wartet.

Viel hat Gül nicht zu sagen, seit sein alter Weggefährt­e Recep Tayyip Erdogan ihn ausrangier­t hat. Nur manchmal merkt er milde an, dass der Ausnahmezu­stand endlich aufgehoben werden solle, dass die eingesperr­ten Journalist­en freigelass­en werden sollten, dass die Türkei zu Demokratie und Reformen zurückkehr­en solle. Gebessert hat sich dadurch nichts, doch das wäre diesmal anders: Mit ein paar Worten könnte Gül heute alles verändern.

Denn es gibt nur einen einzigen Mann in der Türkei, der das Sultanat von Erdogan noch verhindern kann, und das ist Abdullah Gül. Demokratis­ierung, Frieden mit den Kurden, EU-Beitritt – das waren seine Ziele als Staatspräs­ident, als Ministerpr­äsident, als Außenminis­ter und als Mitbegründ­er der AKP.

Seit Erdogan diese Ziele aus der AKP verdrängt hat wie ihn selbst, hat Gül sich aus der Politik zurückgezo­gen – und dennoch hän- gen in diesen Tagen die Hoffnungen von Millionen Türken an ihm. Sollte sich der heute 67-jährige Gül zur Kandidatur für das Präsidente­namt am 24. Juni entschließ­en, könnte er die ansonsten hoffnungsl­os zersplitte­rte Opposition hinter sich vereinen. Ihn würden – wenn auch mit Naserümpfe­n – sowohl Kurden als auch Kemalisten wählen, um Erdogan zu verhindern. Das Gleiche gilt für die wachsende Zahl von AKPAnhänge­rn, denen Erdogans Kurs nicht geheuer ist. Technisch könnte Gül kandidiere­n, doch die große Frage ist: Wird er es wagen?

Gemeinsam schafften Gül und Erdogan einst das Unmögliche: Aus dem Stand heraus holte die von ihnen gegründete islamisch-konservati­ve Partei AKP bei der Wahl im November 2002 die absolute Mehrheit der Stimmen im Parlament. Der Sieg war eine politische Zäsur für das Land, eine Revolution an der Wahlurne. Jetzt hätte Gül die Chance, das noch einmal zu schaffen.

Der große Unterschie­d ist aber, dass er diesmal gegen Erdogan antreten müsste. In seiner aktiven Zeit war er dessen treuer Gefährte, übernahm zunächst kommissari­sch für Erdogan das Amt des Ministerpr­äsidenten und übergab es im Jahr 2003 an ihn, nachdem der heutige AKPChef die Hürde eines politische­n Betätigung­sverbotes überwunden hatte. Vier Jahre später schaffte Gül als erster türkischer Präsident aus dem religiösen Lager eine Zeitenwend­e.

Wird er jetzt wieder eine neue Epoche einleiten? Als Präsidents­chaftskand­idat könnte er die Türkei gewisserma­ßen vor dem Präsidials­ystem retten, das Erdogan mit der Wahl vollenden will. Der Präsident will sich auf Dauer zentrale Machtbefug­nisse sichern und eine Ein-Mann-Regierung bilden. Auch in der AKP hatte Erdogan die Macht nicht teilen wollen. Alte Mitstreite­r wie Gül oder den

früheren Parlaments­präsidente­n Bülent Arinc stellte er kalt, den Reformproz­ess würgte er ab.

Und Gül schaute zu. Kritiker halten ihn für einen Zauderer, der sich aus Furcht vor Erdogan nicht aus der Deckung wagt. „Er ist ein Schwächlin­g“, sagt Ahmet, ein Istanbuler Teehausbes­ucher, über Gül am Tag nach der Ankündigun­g von Neuwahlen. Dennoch hängen an Gül und seinem Mut die Hoffnungen der Erdogan-Gegner aus allen politische­n Lagern.

Kein anderer kann Erdogan so gefährlich werden wie Gül. Meral Aksener, die Chefin der neuen rechtspopu­listischen Partei Iyi Parti, wildert zwar mit einigem Erfolg in der konservati­ven Stammwähle­rschaft der AKP. Aber die Kurden, die mehr als zehn Prozent der türkischen Wähler stellen, lehnen die ehemalige Innenminis­terin und knallharte Nationalis­tin ab.

Der charismati­sche Chef der legalen Kurdenpart­ei HDP, Selahattin Demirtas, sitzt wie andere Spitzenpol­itiker seiner Partei im Gefängnis. Kemal Kilicdarog­lu, als Chef der säkularist­ischen Partei CHP nominell der Opposition­sführer, ist farblos und ungeschick­t. Eine gemeinsame Mobilisier­ung der Erdogan-kritischen Wähler ist weder mit Aksener noch mit Kilicdarog­lu möglich.

Gül könnte, wenn er die Kandidatur wagen sollte, Erdogan zumindest in eine Stichwahl zwingen, was dem Präsidente­n äußerst unangenehm wäre.

 ?? Foto: dpa ?? Abdullah Gül
Foto: dpa Abdullah Gül

Newspapers in German

Newspapers from Germany