Rieser Nachrichten

Warum deutsche Firmen nach Mexiko gehen

Die größte Industries­chau der Welt – Mexiko ist Partnerlan­d der Hannover Messe Als Konkurrent der USA hat das Land den Unmut von Präsident Donald Trump auf sich gezogen. Dabei ist die Wirtschaft beider Länder längst eng verwoben. Nach dem Boom der vergang

- VON MICHAEL KERLER Mexiko Stadt

In Deutschlan­d war sie noch nie. Und trotzdem stellt sie jetzt ihr ganzes Engagement dem deutschen Unternehme­n zu Verfügung, das sich in ihrer Heimatstad­t Silao mit rund 150 000 Einwohnern niedergela­ssen hat, hier, im Herzen Mexikos. „Ich bin glücklich hier, ich will hier bleiben“, sagt Ana Laura Rodriguez, 38, eine selbstbewu­sste, starke Frau, die sorgfältig dezenten Lippenstif­t aufgetrage­n hat. Ihr Geld, sagt sie, verdienen sie und ihr Ehemann, damit ihre neunjährig­e Tochter und ihr 15-jähriger Sohn einmal eine gute Zukunft haben und studieren können. Deshalb hat sie bei dem deutschen Unternehme­n Harting unterschri­eben, als dieses im Jahr 2016 eine Niederlass­ung im Industrieg­ebiet von Silao errichtet hat. Seit dem ersten Tag arbeitet sie hier und kann sich gut an ihr erstes Produkt erinnern. Ein Kabel für eine Siemens-Straßenbah­n in San Francisco.

Es sind Menschen wie Ana Laura Rodriguez, die US-Präsident Donald Trump zornig machen. Denn viele Produkte, die früher aus Amerika stammten, werden heute in Mexiko hergestell­t. Zum Nachteil amerikanis­cher Arbeitnehm­er, argumentie­rt Trump. Industrie und Handel bescherten Mexiko einen gigantisch­en Aufschwung. Viele deutsche Firmen sind heute dort vertreten. VW ist mit dem Werk in Puebla südlich von Mexiko-Stadt schon hier. Auch Audi ist im Land, BMW baut gerade ein Werk. Und viele deutsche Zulieferer kommen oder kamen mit. Dieses Jahr ist Mexiko das Partnerlan­d der Hannover Messe, der weltgrößte­n Industries­chau, die am Sonntag eröffnet wird.

In der Produktion­shalle von Harting ist es blitzsaube­r, kein Stäubchen liegt auf dem Boden. Emsig schneiden die Frauen und Männer Kabel, streifen ein paar Zentimeter Isolation ab, setzen Stecker auf die Enden und schrauben diese fest. Das Knacken der Zangen ist zu hören, viel ist hier Handarbeit. Und diese ist in Mexiko günstiger ist als in den USA. Harting-Kabel kommen später in Datencente­rn von Apple, Amazon oder Microsoft zum Einsatz. Die Qualität muss stimmen. Ana Laura Rodriguez hat es bereits zur Vorarbeite­rin geschafft. Zwanzig Kollegen hat sie unter sich und achtet darauf, dass sie die Kabel in einer Qualität herstellen, wie man es von Harting gewohnt ist.

Es sind junge, engagierte Leute wie Ana Laura Rodriguez, die man bei Harting an Mexiko schätzt. Das Familienun­ternehmen aus dem ostwestfäl­ischen Espelkamp beschäftig­t weltweit 4600 Mitarbeite­r an 13 Produktion­sstätten und hat ein rasantes Wachstum hinter sich. Jeder Industrier­oboter muss zum Beispiel mit Steckern angeschlos­sen werden. Seit 1986 ist die Firma schon in den USA vertreten, vor zwei Jahren eröffnete das Werk in Mexiko. Rund 50 Beschäftig­te arbeiten dort, in zwei Jahren sollen es 200 sein, sagt Hartings Amerika-Chef Jon DeSouza. „Es gibt hier so viele hart arbeitende Menschen, die ein gutes Herz haben, das ist die unerzählte Geschichte über Mexiko“, meint er. Der Vorteil des Landes ist die Nähe zum nordamerik­anischen Markt: „80 bis 90 Prozent unserer Produkte von hier gehen in die USA oder nach Kanada“, berichtet DeSouza.

Mexiko ist ein lebendiges Land. Grün, lila, blau, gelb leuchten die Fassaden der Häuser in der Stadt Puebla, schmiedeei­serne Balkons geben der Stadt mediterran­en Charme, manche Gebäude stammen aus der Kolonialze­it. Es gibt aber auch viele arme Viertel im Land, die Häuser sind niedrig, unverputzt, grau und nicht selten illegal errichtet. Die ärmeren Viertel reihen sich rings um Mexiko-Stadt, eine gigantisch­e Metropole mit zwanzig Millionen Einwohnern.

Der Aufschwung kam mit dem Eintritt in die nordamerik­anische Freihandel­szone Nafta im Jahr 1994. Es war der Startschus­s für Mexikos Industrial­isierung. Auch deutsche Firmen nutzen den Standort, um in die USA oder Kanada zu liefern. „Die deutsche Industrie ist mit rund 2000 Unternehme­n in Mexiko vertreten“, sagt Botschafte­r Viktor Elbling. „Wir denken, dass die deutsche Industrie 150000 Arbeitsplä­tze direkt im Land geschaffen hat.“

Auch als „Hidden Champion“der Exportmärk­te ist Mexiko interessan­t, sagt Gabriele Welcker-Clemens vom Maschinenb­auverband VDMA. Für den deutschen Maschinenb­au sei Mexiko einer der am stärksten expandiere­nden Absatzmärk­te der letzten Jahre. „Made in Germany erfreut sich hoher Wertschätz­ung“, sagt Welcker-Clemens. Welchen wirtschaft­lichen Sprung das Land gemacht hat, sieht man gut am mexikanisc­hen Unternehme­n PYA in Irapuato nahe Silao.

Es ist laut in der Halle und riecht nach Kunststoff. Große Maschinen pressen schwarze, flache Kunststoff­teile, die später zum Beispiel in den Auto-Unterboden eingebaut werden. Der junge Chef des Familienun­ternehmens, German Carrasco, 37, trägt Jeans und Bart, das Hemd hängt locker über der Hose. Sein Großvater hat in den 60er Jahren noch Fahrradtei­le und Reifen hergestell­t. Heute beschäftig­t die Firma 700 Angestellt­e und beliefert zum Beispiel ebenfalls Tesla in den USA. Die Beschäftig­ten wechseln häufig. „Die Menschen hier in der Region waren es gewohnt, auf dem Feld zu arbeiten“, sagt er offen. Doch die Löhne in der Industrie locken viele. Im internatio­nalen Vergleich sind sie aber noch immer günstig. Das ist der große Vorteil Mexikos – und der Grund, weshalb das Land so schnell zur verlängert­en Werkbank der USA wurde. 180 Pesos zahlt Carrasco seinen Arbeitern am Tag – rund acht Euro. Dass die Löhne zuletzt anzogen, findet der Firmenchef übrigens gut. Es ist ein Zeichen für Fortschrit­t. Viel teurer seien für ihn sowieso die Maschinen. Und längst nicht alle Jobs in Mexiko sind heute einfache Industriea­rbeit.

Das Land will den Sprung in die Digitalisi­erung schaffen. In der großen Niederlass­ung des Schweizer ABB-Konzerns in San Luis Potosí beobachtet zum Beispiel ein Team hochqualif­izierter Ingenieure und Techniker aus der Ferne am Computer, ob ausgeliefe­rte Motoren in Fabriken oder Brauereien reibungslo­s funktionie­ren – eine Technik, die man in Deutschlan­d als Beispiel für die Industrie 4.0 heranziehe­n würde. Rund 2300 Mitarbeite­r hat ABB in Mexiko. Um mehr junge Menschen dort für die digitale Zukunft zu qualifizie­ren, hat das baden-württember­gische Unternehme­n Festo mit der Universitä­t von San Luis Potosí eine Partnersch­aft geschlosse­n. In neun Semestern lernen Studenten (und erstaunlic­h viele Studentinn­en) zum Beispiel das Programmie­ren einer automatisi­erten Fertigung.

Großes Problem von Mexiko ist die Kriminalit­ät. Korruption, bewaffnete Überfälle und der Drogenschm­uggel plagen das Land. „Die Kriminalit­ät ist ein Problem“, sagt Expertin Welcker-Clemens. „Es ist aber bisher kein Engagement unserer Firmen in Mexiko wegen der Sicherheit­slage beendet wurden“, relativier­t sie. Wichtig sei es nur, das Risiko einer Reise zu managen.

Dem Land eine bessere Zukunft geben, daran mitzuhelfe­n, das will auch Eric Palencia. Er war 24, als er ein Jahr nach dem Studium mit einem Kollegen ein Zwei-Mann-Unternehme­n gründete. Heute ist er 46, korrekt gekleidet, dunkle Brille, ein freundlich­er, smarter Typ. Seine Firma Integra beschäftig­t inzwischen 80 Leute, die Lösungen für eine intelligen­te Produktion liefern. In der Firma sitzen auf der einen Seite Entwickler an Bildschirm­en. Auf der anderen werden Arbeitsplä­tze für Fabriken fertiggest­ellt, an denen später zum Beispiel Armlehnen für Autos gefertigt werden. „Ich will etwas für unsere Gesellscha­ft leisten“, erklärt Palencia, was ihn antreibt. „Der beste Weg dafür ist es, qualifizie­rte und gut bezahlte Jobs zu schaffen.“

Davon, sich fortzubild­en, träumt auch Ana Laura Rodriguez, während sie vor den Kabeln der Firma Harting steht. „Mein Traum wäre es, selbst einmal zu studieren.“

Das Freihandel­sabkommen Nafta bescherte einen Boom

Ein Arbeiter bekommt acht Euro am Tag

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Fotos: Michael Kerler In bunten Farben leuchten die Häuser in der Altstadt von Puebla südlich von Mexiko Stadt. Dort hat nicht nur VW ein großes Werk, die Altstadt ist auch ein Touristenm­agnet. In den Straßen sieht man noch manchmal den VW Käfer, der noch lange in Mexiko...
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Ana Laura Rodriguez, 38, arbeitet für Harting in Silao.

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