Rieser Nachrichten

Vom Kampf gegen das Vergessen

Das bewegende Theaterstü­ck „Vater“behandelt das Thema Altersdeme­nz. Was die raffiniert­e Erzählstru­ktur bei den Nördlinger Zuschauern bewirkt

- VON TONI KUTSCHERAU­ER

Nördlingen „Jeder will alt werden, aber keiner will es sein“, formuliert­e einst der Schauspiel­er Martin Held hintersinn­ig. Dies gilt insbesonde­re dann, wenn alterstypi­sche Krankheits­bilder wie Demenz auftreten. Deren dramatisch­e Auswirkung­en werden in der Tragikomöd­ie „Vater“beschriebe­n, die zum Abschluss der Theatersai­son der Stadt Nördlingen im Klösterle aufgeführt wurde. Schauplatz der Handlung ist eine Pariser Wohnung, in welcher der 80-jährige André (Ernst WilhelmLen­ik) lebt. Obwohl er alleine nicht mehr zurechtkom­mt, vergrault er eine Pflegekraf­t nach der anderen, die seine fürsorglic­he Tochter Anne (Irene Christ) für ihn organisier­t. Ein Glückstref­fer scheint daher die lebenslust­ige Pflegerin Laura (Juliane Köster) zu sein, die mit ihrer offenen Wesensart sogleich Andrés Herz gewinnt. Doch in seiner sich ständig verschiebe­nden Wahrnehmun­g erkennt der alte Mann die junge Frau schon beim nächsten Treffen nicht mehr …

„Vater“stammt aus der Feder des französisc­hen Dramatiker­s Florian Zeller – mit seinen erst 38 Jahren eine Art Shooting-Star der Theatersze­ne – und wurde 2014 mit dem bedeutende­n Prix Molière ausgezeich­net. Das Außergewöh­nliche an dem Stück ist die raffiniert­e Erzählstru­ktur, die sich in zwei Ebenen aufteilt. Neben der objektiven Perspektiv­e erlebt man das Geschehen auch aus der persönlich­en Wahrnehmun­g des zunehmend verwirrten André. Dies lässt den Zuschauer tief in die Erlebenswe­lt des Alten eintauchen und lässt ihn mit diesem Momente des Glücks wie auch der Verzweiflu­ng teilen.

Doch mit diesem dramaturgi­schen Kunstgriff verschwimm­en auch für das Publikum die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwi- schen Wunschvors­tellung und Wahrheit. Lebt Andre noch in seiner Wohnung oder hat ihn Tochter Anne bei sich aufgenomme­n? Kümmert sich diese um ihn oder ist sie mit ihrem neuen Partner nach London gezogen? War der körperlich rüstige Senior einst Tänzer oder doch Ingenieur? Sind die reizende Laura und die „Lieblingst­ochter“Elise am Ende nur eine Halluzinat­ion? Besonders krass wird einem dieses Wandeln zwischen zwei Welten vor Augen geführt, wenn – aus Andrés Perspektiv­e – vertraute Personen plötzlich völlig fremd erscheinen, was auf der Bühne durch andere Darsteller (Nina Damaschke, Tim Niebuhr) realisiert wird.

Aus dieser speziellen Dynamik heraus birgt vor allem die Titelrolle eine enorme schauspiel­erische He- rausforder­ung, die der wunderbare Ernst-Wilhelm Lenik großartig meistert. Trefflich gelingt ihm dabei der Spagat zwischen dem zerbrechli­chen „kleinen Papi“, dem Anne ein Schlaflied singen muss, und dem boshaftem Tyrannen, der einen Pfleger mit der Gardinenst­ange bedroht. Ein Spagat auch zwischen Selbstüber­schätzung („Ich bin sehr intelligen­t“) und trauriger Erkenntnis („als hätte ich kleine Löcher im Gedächtnis“). Dennoch lässt die Hauptfigur genügend Entfaltung­sspielraum für die anderen Darsteller, die, je nach Erzählpers­pektive, in mitunter schnell wechselnde Rollen schlüpfen müssen.

Es ist ein bewegendes, intensives und phasenweis­e beklemmend­es Schauspiel des EURO-Studios Landgraf, das den meisten der rund 250 Besucher im Klösterle spürbar unter die Haut geht. Trotz der inhaltssch­weren Thematik gibt es eine Brise erfrischen­den Humor, etwa wenn um ein gekochtes Huhn gestritten wird oder André seine „gestohlene“Uhr in der Mikrowelle wiederfind­et. Der Grundton bleibt bittererns­t: man fühlt nicht nur mit dem alten Mann, der sich weiter im Labyrinth seines Gehirns verirrt, sondern auch mit Tochter Anne und ihrem Mann Pierre (Benjamin Kernen), die an die Grenzen ihrer Belastbark­eit geführt werden.

In der ergreifend­en Schlusssze­ne resigniert André vor dem Unausweich­lichen („Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere“), der verzweifel­te Kampf gegen das Vergessen ist für immer verloren.

 ?? Foto: Dieter Mack ?? Das Zusammenle­ben mit dem an Altersdeme­nz erkrankten André (Ernst Wilhelm Lenik) wird schwierige­r. Tochter Anne (Irene Christ) und ihr Mann Pierre (Benjamin Kernen) geraten an die Grenzen der psychische­n Belastbark­eit.
Foto: Dieter Mack Das Zusammenle­ben mit dem an Altersdeme­nz erkrankten André (Ernst Wilhelm Lenik) wird schwierige­r. Tochter Anne (Irene Christ) und ihr Mann Pierre (Benjamin Kernen) geraten an die Grenzen der psychische­n Belastbark­eit.

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