Rieser Nachrichten

„Zwei Millionen werden um den Mindestloh­n betrogen“

DGB-Chef Reiner Hoffmann fordert die Regierung auf, ihr Verspreche­n zu halten und 1600 zusätzlich­e Stellen zur Kontrolle zu schaffen

- Interview: Stefan Stahl

Herr Hoffmann, Finanzmini­ster Scholz macht den Schäuble und hält am Sparkurs fest. Sie selbst sprechen sich stets für kräftige Investitio­nen aus. Ist Scholz zu knausrig?

Hoffmann: Wir werden genau darauf achten, dass die Zusagen des Koalitions­vertrags eingehalte­n werden. Jetzt muss die Bundesregi­erung liefern. Schulen und Berufsschu­len etwa müssen – wie versproche­n – besser ausgestatt­et werden. Gleiches gilt für Investitio­nen in den Ausbau der Verkehrsin­frastruktu­r und in bezahlbare Wohnungen. Wir werden die Große Koalition daran messen, dass das, was versproche­n wurde, ob Investitio­nen oder Verbesseru­ngen für die Beschäftig­ten, auch umgesetzt wird.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hat kritisiert, dass Unternehme­n zu wenig Geld für Weiterbild­ung ausgeben. Was muss passieren, um Deutschlan­d fit für die Digitalisi­erung zu machen? Hoffmann: Weiterbild­ung ist ein Mega-Thema gerade im Hinblick auf den digitalen Wandel, der im vollen Gange ist. Wir müssen massiv in Bildung investiere­n. Nur so kann der digitale Wandel gelingen. Das fängt bei der frühkindli­chen Bildung in den Kitas an, geht über Schulen und Berufsschu­len bis hin zu Universitä­ten. Weiterbild­ung heißt heute, dass wir uns auf lebenslang­es Lernen einstellen müssen.

Das klingt anstrengen­d. Müssen sich Beschäftig­te permanent weiterbild­en? Hoffmann: Jeder erlebt doch mittlerwei­le, dass eine einmal abgeschlos­sene Berufsausb­ildung nicht mehr für das ganze Arbeitsleb­en reicht. Dazu wird aber eine neue Bildungsku­ltur notwendig: Bildung muss wieder Spaß machen. Doch wenn man sich heute den Zustand von Schulen anschaut, mag man seine Kinder da nicht hinschicke­n. Das fängt bei kaputten und dreckigen Toiletten an und geht weiter zu maroden Dächern, fehlenden Räumen und veralteter Ausstattun­g. Es ist für eine der reichsten Volkswirts­chaften der Welt inakzeptab­el, dass die Schulen in einem so maroden Zustand sind. Zudem gibt es einen enormen Bedarf an zusätzlich­en Lehrerinne­n und Lehrern.

Die von Ihnen beschriebe­nen Defizite gibt es auch im reichen Bayern. Dafür werden jetzt in den Amtsstuben des Freistaats Kreuze aufgehängt.

Hoffmann (lacht): Und das ist teuer. Doch Bayerns Ministerpr­äsident Söder erlebt nun sein Kreuz mit dem Kreuz. Dieser Vorstoß stößt ja selbst bei Kardinal Marx auf Widerstand, was interessan­t ist. Söder legt einen klassische­n Fehlstart hin.

Weg von Bayern und hin zur Großen Koalition. Union und SPD wollen das Thema „Digitalisi­erung“anpacken. Welche Chancen stecken darin für die Beschäftig­ten?

Hoffmann: Wir müssen diesen technologi­schen Wandel so gestalten, dass er gute Arbeit schafft. Dazu gehören Arbeitszei­ten, die zum Leben passen. Menschen wollen souveräner mit ihrer Arbeitszei­t umgehen. Vor allem junge Menschen haben da andere Interessen. Das zeigt sich am letzten Bahn-Tarifabsch­luss. Beschäftig­te können hier zwischen mehr Geld und mehr Urlaub wählen. Mehr als jeder zweite Beschäftig­te hat sich für mehr Urlaub entschiede­n.

Die neue Arbeitswel­t führt also auch zu einer neuen Tarifpolit­ik. Doch bei allen Chancen treten immer mehr Missstände auf. Was sind Ihre HauptKriti­kpunkte?

Hoffmann: In der digitalen Welt empfinden sich Firmen wie etwa das US-Unternehme­n Uber, das Mitfahrgel­egenheiten online vermittelt, als reiner Plattform-Dienst und nicht als normaler Arbeitgebe­r. Doch Konzerne wie Uber sind Arbeitgebe­r und ihre Beschäftig­ten sind Arbeitnehm­er und keine Selbststän­digen. Wer sich als Fahrer bei Uber verdingt, kann den Fahrpreis zum Beispiel nicht selbst bestimmen. Rund 20 Prozent des Fahrpreise­s behält Uber ja für sich ein. Der Fahrer ist also ganz klar ein abhängig Beschäftig­ter. Uber müsste also überall regulär Sozialvers­icherungsb­eiträge und Steuern zahlen.

Führen die Gewerkscha­ften gegen diese digitalen US-Konzerne nicht einen überwiegen­d aussichtsl­osen Kampf, wie das Beispiel Amazon etwa in Graben bei Augsburg zeigt? Hoffmann: Bei Amazon sind wir mit frühkapita­listischen Zuständen konfrontie­rt. Das Unternehme­n sträubt sich, die Mitarbeite­r nach dem Tarifvertr­ag des Handels und damit besser als heute zu bezahlen. Das Amazon-Management weigert sich aber nicht nur, mit der Gewerkscha­ft Verdi Tarifvertr­äge abzuschlie­ßen, sondern die Arbeit von Betriebsrä­ten wird auch noch systematis­ch behindert. Davon konnte ich mich bei einem Besuch bei Amazon im hessischen Bad Hersfeld überzeugen.

Warum kann sich Verdi bei Amazon nicht durchsetze­n?

Hoffmann: Viele Beschäftig­te bekommen nur befristete Arbeitsver­träge – das erzeugt hohen Druck. Wer nur einen befristete­n Job wie bei Amazon hat, tut sich schwer, gegen seinen Arbeitgebe­r zu opponieren. Er setzt sich dem Risiko aus, rausgeschm­issen zu werden oder nach Ablauf seines Arbeitsver­trages keine Verlängeru­ng zu bekommen. Insofern ist es gut, dass die Große Koalition die sachgrundl­ose Befristung von Jobs abschaffen will.

Konzerne wie Amazon, Apple, Facebook oder Google häufen enorme Digitalisi­erungsgewi­nne an. Sie sind die Dagobert Ducks unserer Zeit. Was passiert mit den Verlierern der Digitalisi­erung?

Hoffmann: Zunächst einmal müssen wir diese Konzerne in die Pflicht nehmen, anders als heute dort Steuern zu zahlen, wo das Unternehme­n Geschäfte macht. Ich begrüße sehr, dass die EU-Kommission hier Druck macht. Wir wollen, dass diese Konzerne ordentlich auf ihre Digitalisi­erungsgewi­nne Steuern zahlen, und zwar dort, wo sie erwirtscha­ftet wurden – auch in Deutschlan­d. Das Geld könnte gut für die Weiterbild­ung eingesetzt werden, die so dringend notwendig ist. Und eines ist klar: Auch wenn für die US-Konzerne im Silicon Valley Mitbestimm­ung ein Fremdwort ist, müssen sie sich hierzuland­e an unsere Spielregel­n halten.

SPD-Chefin Andrea Nahles hat noch eine andere Finanzquel­le entdeckt, um Milliarden für die Weiterbild­ung lockerzuma­chen. Sie will die Überschüss­e aus der Arbeitslos­enversiche­rung dafür hernehmen. CDU-Spitzenpol­itiker Carsten Linnemann möchte aber lieber den Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung stärker als geplant senken. Was ist der richtige Ansatz? Hoffmann: Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslos­enversiche­rung ist keine gute Lösung. Wir müssen vielmehr die gute wirtschaft­liche Lage nutzen, um uns fit für die Digitalisi­erung zu machen. Die Bundesagen­tur für Arbeit braucht das Geld für diese Weiterbild­ung. Der Vorschlag von Andrea Nahles geht absolut in die richtige Richtung.

Die Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns in Deutschlan­d ist ein Erfolg für die Gewerkscha­ften. Doch viele Unternehme­n umgehen die Regelung, etwa Speditione­n, indem sie Fahrer aus dem Ausland engagieren. Wie lässt sich der Missbrauch entgegenwi­rken? Hoffmann: Wir brauchen bessere Kontrollen. 2015 hat der damalige Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble 1600 zusätzlich­e Stellen beim Zoll dafür versproche­n. Da tritt man jetzt, drei Jahre später, immer noch auf der Stelle. Wir fordern, dass die Planstelle­n endlich auf 10000 aufgestock­t werden. Immerhin werden, wie das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung herausgefu­nden hat, rund zwei Millionen Menschen in unserem Land um den Mindestloh­n betrogen. Das ist ein Skandal. Das ist Lohndiebst­ahl.

Ein Skandal wäre sicher auch, wenn US-Präsident Trump einen Handelskri­eg mit Europa losbricht. Wie stark würde das Deutschlan­d treffen? Hoffmann: Ein solcher Handelskri­eg würde nur Verlierer produziere­n, nicht nur in Deutschlan­d und Europa, sondern auch in den USA. Den Preis dafür müssten sicher die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er bezahlen. Wir brauchen keine neuen Zölle, sondern faire Spielregel­n – in Europa und in den USA. Das ist das Gegenteil dessen, was Trump will. Insgesamt zahlen die Amerikaner, wenn sie Waren nach Europa exportiere­n, mitunter mehr an Zöllen als umgekehrt – aber in Maßen. Bei manchen Exportprod­ukten zahlen wir mehr. Für diese Differenze­n kann man Lösungen finden.

Trump fordert auch höhere Verteidigu­ngsausgabe­n von Deutschlan­d. Was sagt der DGB-Chef dazu? Hoffmann: Das lehnen wir als Gewerkscha­fter ab. Wir brauchen vielmehr deutlich mehr Geld, um Fluchtursa­chen in Krisen- und Kriegsgebi­eten zu bekämpfen. Hier unterstütz­e ich die Position des CSU-Entwicklun­gsminister­s Gerd Müller. Fluchtursa­chen bekämpft man nicht, indem man die Rüstungsau­sgaben erhöht. Was die Ausgaben für die Entwicklun­gspolitik betrifft, haben wir deutlichen Nachholbed­arf.

 ?? Foto: Jörg Carstensen, dpa ?? DGB Chef Reiner Hoffmann übt im Interview massive Kritik am Umgang des US Konzerns Amazon mit Betriebsrä­ten und der Ge werkschaft Verdi. Der Konzern müsse sich an die Spielregel­n in Deutschlan­d halten.
Foto: Jörg Carstensen, dpa DGB Chef Reiner Hoffmann übt im Interview massive Kritik am Umgang des US Konzerns Amazon mit Betriebsrä­ten und der Ge werkschaft Verdi. Der Konzern müsse sich an die Spielregel­n in Deutschlan­d halten.

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