Rieser Nachrichten

Warum die ganze Kunst?

Das Museum Ulm und die Kunsthalle Weishaupt fragen nach dem Sinn ästhetisch­er Gestaltung – und haben keine einfache Antwort. Das schmälert nicht die Qualität des Gezeigten

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Warum macht der Mensch Kunst? Mit dieser großen Frage haben sich schon Generation­en von Philosophe­n, Künstlern und Wissenscha­ftlern beschäftig­t. Und keine letztgülti­ge Lösung gefunden. Nun stellen auch das Museum Ulm und die Kunsthalle Weishaupt die Frage „Warum Kunst?“. Beide – so viel sei bereits verraten – finden ebenfalls nicht die eine Antwort. Was aber gar nicht schlimm ist.

Entstanden ist die Idee zu der Ausstellun­g, als im vergangene­n Jahr sechs Höhlen auf der Schwäbisch­en Alb zum Unesco-Weltkultur­erbe erklärt wurden. In ihnen wurden einige der ältesten Kunstwerke überhaupt gefunden, darunter der rund 40000 Jahre alte Löwenmensc­h, der Star der Ulmer Sammlung. Stefanie Dathe, die Direktorin des Museums, holte für ihre Ausstellun­gsidee sogleich die über einen gläsernen Steg mit ihrem Haus verbundene Kunsthalle ins Boot.

Dadurch konnte die Kuratorin aus dem Vollen Schöpfen: Das Museum verfügt nicht nur über Eiszeitkun­st, sondern auch über bedeutende Werke der mittelalte­rlichen Kunst, während die Sammlung des Unternehme­rehepaars Siegfried und Jutta Weishaupt ihren Schwerpunk­t auf Nachkriegs­strömungen wie Pop Art und Minimal Art hat, aber auch einige junge Positionen umfasst. Dazu kommen Leihgaben aus anderen öffentlich­en und privaten Sammlungen. Entspreche­nd ist „Warum Kunst?“ein Brückensch­lag von der Steinzeit bis in die Gegenwart, vom unbekannte­n Schnitzer des Löwenmensc­hen bis zum Kunst-Weltstar Anish Kapoor – und mit rund 200 Werken von 100 Künstlern auf einer Ausstellun­gsfläche von 2000 Quadratmet­ern ziemlich umfangreic­h: Man will angesichts dieser Dimensione­n fast von Glück sprechen, dass beispielsw­eise die Antike nicht in den Ulmer Beständen vertreten ist.

„Warum Kunst?“, so Museumslei­terin Dathe, sei eine einfache Frage, auf die es jedoch eine Vielzahl sehr komplexer Antwortmög­lichkeiten gebe. Das Scheitern an der Ausgangsfr­age war also einkalkuli­ert. Die Ausstellun­g beleuchtet drei (jeweils ziemlich weite) Felder künstleris­chen Gestaltens. Die erste Abteilung in der Kunsthalle dreht sich um Glaubensin­halte und Vorstellun­gswelten: Schließlic­h stehen Darstellun­gen mit religiösem Hintergrun­d am Anfang der Kunstge- schichte. So wie der Löwenmensc­h, der als Replik (das Original bleibt in der Archäologi­e-Abteilung des Museums) zu sehen ist – in einem Kabinett mit einer Videoarbei­t des USAmerikan­ers Bill Viola und ethnologis­chen Objekten aus verschiede­nen Zeiten und Kulturkrei­sen.

Es sind reizvolle Konfrontat­ionen wie diese, von denen die Ausstellun­g lebt, auch in der zweiten Abteilung, die Kunst als Mittel der Aneignung der Welt und der Auseinande­rsetzung mit ihr erklärt. Dazu passt ein Stillleben von David Hockney ebenso wie japanische Farbholzsc­hnitte aus dem 18. Jahrhunder­t und Mark Lombardis in Diagramme gepackte Recherchen zu den Verflechtu­ngen von Wirtschaft und Politik. Arbeiten, die nicht viel mehr gemeinsam haben als den Anspruch, Kunst zu sein, und die Tatsache, dass sie die Realität abbilden.

Ein Phänomen, das bei „Warum Kunst?“immer wieder auftaucht: So wenig wie eine klare Antwort auf die gestellte Frage möglich ist, so wenig existiert eine klare erzähleris­che Linie. Stattdesse­n gibt es viele zarte Verbindung­en, unerwartet­e Interferen­zen und vor allem: viel interessan­te Kunst, Bekanntes ebenso wie Abseitiges. „Warum Kunst?“funktionie­rt nicht wie eine konzentrie­rte Themenauss­tellung, sondern eher wie eine Kunstbienn­ale oder die Documenta. Die mit umfangreic­hen Begleittex­ten versehene Schau fordert selektives und genaues Betrachten heraus.

Folglich müsste die Ausgangsfr­age lauten: „Warum Museum?“. Und die Antwort wäre: Weil erst durch Ausstellun­gen wie diese die Kunst in Kontexte gesetzt wird; weil die Fülle und die Komplexitä­t von Kunst das Denken anregen. Über die Welt, über sich selbst, über die eigene Wahrnehmun­g und natürlich über die Kunst. So wie es in der dritten und letzten Abteilung der Ausstellun­g, untergebra­cht im Erdgeschos­s des Fried-Baus im Museum Ulm, geschieht. Mit einer Künstler- und Werkauswah­l, die sich sehen lassen kann: Roy Lichtenste­in, Georg Baselitz, Gerhard Richter, Andy Warhol, vieles davon aus den eigenen Beständen.

Insofern zeigt „Warum Kunst?“auch den Stellenwer­t der Ulmer Sammlungen. Wohl nicht ohne Hintergeda­nken: Museumsdir­ektorin Dathe kämpft seit ihrem Amtsantrit­t für eine bessere finanziell­e Ausstattun­g und einen Umbau ihres Hauses. Diese Ausstellun­g liefert ihr gute Argumente.

Am Anfang steht die Religion

Ausstellun­g „Warum Kunst?“wird am Freitag, 4. Mai, um 19 Uhr eröffnet und läuft danach bis 7. Oktober. Ein Be gleitband soll im Juni erscheinen.

 ?? Foto: Horst Hörger ?? Brutale Realität in der Ausstellun­g „Warum Kunst?“: Die Arbeit „O Crudele Spectaculu­m“von Simon Wachsmuth, im Hintergrun­d vier „Bodyhammer­s“Kohlezeich­nungen von Robert Longo.
Foto: Horst Hörger Brutale Realität in der Ausstellun­g „Warum Kunst?“: Die Arbeit „O Crudele Spectaculu­m“von Simon Wachsmuth, im Hintergrun­d vier „Bodyhammer­s“Kohlezeich­nungen von Robert Longo.

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