Rieser Nachrichten

Das Gesicht der Versöhnung

Mevlüde Genç verlor durch einen rassistisc­hen Brandansch­lag in Solingen Töchter und Enkel. Auch 25 Jahre danach empfindet sie keinen Hass

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Fünf Kastanienb­äume stehen heute auf dem Grundstück der Unteren Wernerstra­ße 81 im nordrhein-westfälisc­hen Solingen. Sie erinnern an die fünf türkischst­ämmigen Opfer, die bei einem der schwersten rechtsradi­kalen Verbrechen der Bundesrepu­blik gestorben sind. In den frühen Morgenstun­den des 29. Mai 1993 zünden vier junge Männer aus der Neonazi-Szene das Zweifamili­enhaus an.

Zur Tatzeit befinden sich 19 Mitglieder der Familie Genç im Gebäude – darunter auch Mevlüde. Sie verliert im Feuer ihre beiden Töchter, zwei Enkelinnen sowie eine Nichte. Viele weitere Verwandte werden lebensgefä­hrlich verletzt. Für die heute 75-Jährige bricht damit eine Welt zusammen. In einem Interview mit der Rheinische­n Post sagte sie kürzlich: „Ich empfinde seit 25 Jahren denselben Schmerz. Jahre mögen vergehen, aber der Schmerz nicht.“Noch immer denke sie an die Schreie ihrer Familienmi­tglieder zurück, die in den Flammen verbrannte­n.

Mevlüde Genç hätte jeden Grund gehabt zu hassen, sich an den vier Tätern, die allesamt lange Haftstrafe­n verbüßen mussten, rächen zu wollen. Doch sie ging einen anderen Weg – einen Weg der Versöhnung und Verständig­ung. Ihr Hauptanlie­gen ist es, dass Deutsche und Türken friedlich zusammenle­ben. Ihr Verhalten nach einem solchen Schicksals­schlag imponierte Menschen und Politik gleicherma­ßen. 1996 erhielt Mevlüde Genç das Bundesverd­ienstkreuz, ist zudem Namensgebe­rin des Genç-Preises für friedliche­s Miteinande­r, der Menschen verliehen wird, die sich für Vermittlun­g und gegen Extremismu­s einsetzen. Auch heute sind bei Mevlüde Genç kein Hass, keine Verbitteru­ng zu spüren. Seit 48 Jahren lebt sie in der Bundesrepu­blik und besitzt die deutsche Staatsbürg­erschaft. Solingen, der Ort der fremdenfei­ndlich motivierte­n Morde, ist für die 75-Jährige zu einem Zuhause geworden: „Solingen liebe ich trotz des Anschlags noch wie meine Heimat“, sagt sie.

Jedes Jahr am 29. Mai kehrt Mevlüde Genç, deren aktueller Wohnort geheim ist, mit ihrem Mann Durmuç an die Untere Wernerstra­ße 81 zurück. An diesen Tagen, erklärt sie, denke sie besonders an ihre Töchter und die anderen Opfer. Am Dienstag jährt sich der Anschlag zum 25. Mal. Zu einer Gedenkfeie­r in der Staatskanz­lei in Düsseldorf haben sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel sowie der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu angekündig­t. Wenn Politiker der Familie Beileid ausspreche­n, berührt das Mevlüde Genç. Noch heute kann sie kaum darüber sprechen, wie CDUPolitik­er Armin Laschet, Ministerpr­äsident Nordrhein-Westfalens und damaliger Integratio­nsminister, am Grab ihrer Kinder in der Türkei gestanden hat.

Am Dienstag wird Mevlüde Genç wieder zusammen mit ihrem Mann unter den fünf Kastanienb­äumen in Solingen stehen und der fünf Opfer gedenken. Fabian Kluge

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Foto: Imago

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