Rieser Nachrichten

Immer auf die Kleinen

Ab diesem Freitag gelten in ganz Europa verschärft­e Datenschut­zrichtlini­en. Das hat Folgen für staatliche Behörden, global tätige Unternehme­n – und jeden einzelnen Verein, auch in der Region. Hier ist der Ärger über die Vorgaben aus Brüssel entspreche­nd g

- VON MICHAEL BÖHM

Günzburg/Höchstädt Es ist ein klein wenig so wie früher in der Schule. Der Termin der nächsten Schulaufga­be steht lange fest – aber mit dem Lernen beginnt man dann doch wieder erst kurz vorher. Aber diesmal sind es keine pubertiere­nden Schüler, denen ein Mathe-Test, ein Deutsch-Aufsatz oder eine Englisch-Prüfung Sorgen bereitet. Es sind gestandene Erwachsene, die unter Druck geraten sind und unter diesem lautstark ächzen. Die Aufgaben, die ihnen gestellt werden, haben zwar nichts mit der Lösung komplexer Integralgl­eichungen oder der Interpreta­tion deutscher Dichtkunst zu tun. Für viele fühlt es sich aber ein Stück weit so an. Schon die Abkürzung lässt viele nur den Kopf schütteln: EU-DSGVO.

Im Jahr 2016 hat die Europäisch­e Union die sogenannte Datenschut­zGrundvero­rdnung – wer will, erkennt darin die oben aufgeführt­e Buchstaben­kombinatio­n wieder – erlassen. Sie soll sicherstel­len, dass persönlich­e Daten von Bürgern in ganz Europa gleicherma­ßen behandelt und vor allem geschützt werden. Sie soll verhindern, dass Unbefugte Zugriff auf Namen, Adressen oder weitaus sensiblere Informatio­nen wie Kontoverbi­ndungen oder Krankenakt­en haben. Sie soll gewährleis­ten, dass jeder Mensch weiß oder wenigstens erfahren kann, wer seine Daten hat und was dieser damit anfängt. Zwei Jahre bekamen die EU-Mitgliedst­aaten, Behörden, Unternehme­n und Organisati­onen Zeit, sich den europaweit geltenden Regeln anzupassen. Weil aber Unklarheit herrschte, was die Verordnung überhaupt bedeutet, geschah lange nichts.

An diesem Freitag läuft diese Übergangsf­rist nun ab. In einigen Einrichtun­gen bekommen die Verantwort­lichen feuchte Hände. Und in Vereinen schlagen die Ehrenamtli­chen die Hände über dem Kopf zusammen. Denn auch für sie gelten künftig die europäisch­en Datenschut­zregeln.

Ein Unding, findet Hans-Jürgen Abmayr. „Die Politik drückt uns immer noch mehr Verwaltung­skram auf, der mit unserer eigentlich­en Arbeit, dem Sport und dem Naturschut­z, überhaupt nichts zu tun hat. In Deutschlan­d sind wir auf dem besten Weg, uns zu Tode zu verwalten“, schimpft der Vorsitzend­er der Sektion Günzburg im Deutschen Alpenverei­n mit rund 2000 Mitglieder­n.

Skitoureng­ehen, Klettern, Radfahren – dem 57-jährigen Tierarzt fallen viele Dinge ein, die er in seiner Freizeit gerne tun würde. Stattdesse­n sitzt er nun hier in der „Geschäftss­telle“seines Vereins – ein notdürftig eingericht­etes Büro in den in die Jahre gekommenen Gemäuern der 1929 erbauten Jahnhal- le. Ein Tisch, zwei Regale, drei Stühle und ein Laptop – mehr nicht. Unzählige Stunden müsse er als Vereinsvor­sitzender mittlerwei­le am Schreibtis­ch verbringen, um den ganzen „Verwaltung­skram“, wie er es nennt, zu erledigen. Vor gut zwei Jahren stellte der Verein extra eine Verwaltung­skraft ein, weil die Bürokratie ehrenamtli­ch kaum mehr zu stemmen war. Das hänge zum einen mit der in den vergangene­n Jahren stetig gestiegene­n Mitglieder­zahl des Vereins zusammen, räumt Abmayr ein. Doch die zusätzlich­en, politisch geforderte­n Aufgaben würden ebenfalls immer mehr.

Seit wenigen Jahren müssen Übungsleit­er regelmäßig polizeilic­he Führungsze­ugnisse vorlegen. Damit soll dem sexuellen Missbrauch von Kindern in Vereinen durch einschlägi­g vorbestraf­te Täter vorgebeugt werden. Sinnvoll, ja. Aber eben auch Aufwand, sagt Abmayr. Zudem müsse er sich verstärkt mit Haftungsfr­agen auseinande­rsetzen für den Fall, dass sich etwa bei Mountainbi­ke-Touren ein Teilnehmer verletzt. Dann kümmere sich der Verein noch um die Sie- gerlandhüt­te in den Stubaier Alpen. „Da gelten mittlerwei­le Hygienevor­schriften wie in einem Hotel. Wir mussten den ganzen Keller fliesen – in 3000 Meter Höhe. Da passt doch was nicht“, sagt Abmayr. Und jetzt auch noch der Datenschut­z.

Also haben er und seine Freunde vom Alpenverei­n sich notgedrung­en in die Feinheiten des europäisch­en Datenschut­zrechts gestürzt. Sie kämpften sich durch die Verordnung mit ihren elf Kapiteln, 99 Artikeln, dutzenden Seiten juristisch­er Formulieru­ngen. Sie lasen Zeitungsar­tikel, recherchie­rten im Internet, bekamen Hilfestell­ungen von Dachverbän­den. Mehr als 30 Stunden Arbeit seien nötig gewesen, um sich in das Thema „reinzufuch­sen“. Alles ehrenamtli­ch, versteht sich. Und dann ging es an die Umsetzung. Alle Vereinsmit­glieder müssen informiert, Mitarbeite­r geschult, Internetse­iten angepasst werden. Es muss dokumentie­rt werden, wer wie, wann und wo im Verein mit persönlich­en Informatio­nen über Mitglieder zu tun hat. Wo liegen die Daten? Ist der Schrank mit den Aktenordne­rn abgesperrt? Wer hat den Schlüssel? Hat der Computer ein Anti-Virus-Programm? „Im Grunde ist das alles kein Hexenwerk, aber viel ärgerliche Arbeit, die einfach noch obendrauf kommt“, resümiert Abmayr.

Vor allem zwei Dinge treiben ihn dabei um. Dass ihm und seinen Kollegen ein Fehler bei der Umsetzung des komplizier­ten Regelwerks unterlaufe­n könnte. Und dass sich findige Anwaltskan­zleien auf die Suche danach machen und seinen Verein verklagen könnten. „Von solchen Abmahnwell­en hört man doch immer wieder“, sagt Abmayr. Bei Verstößen gegen die europäisch­e Verordnung drohen laut Gesetzeste­xt Bußgelder in Höhe von bis zu 20 Millionen Euro, bei Unternehme­n bis zu vier Prozent des weltweit erzielten Jahresumsa­tzes.

Es sind Paragrafen wie diese, die vielen Vereinsfun­ktionären Sorgen bereiten. Nicht unbedingt, weil sie befürchten, plötzlich Millionen zahlen zu müssen. Vielmehr, weil sie sich als Ehrenamtli­che von der Verordnung überforder­t fühlen.

Es ist ein lauer Frühlingsa­bend, die Sonne scheint, es ist ein bisschen zu frisch für einen Biergarten­besuch, aber viel zu schön, um sich in einer bestuhlten Turnhalle in Höchstädt im Landkreis Dillingen mit juristisch­en Spitzfindi­gkeiten herumzusch­lagen. Und doch haben sich an diesem Abend rund 100 Vertreter von Sportverei­nen aus der Region genau dazu entschloss­en. Sie alle haben schon von der Datenschut­zverordnun­g gehört, viele haben sich eingelesen – und hatten danach mehr Fragen als Antworten.

Bin ich überhaupt betroffen? Was sind schützensw­erte Daten? Wie ist das mit Fotos auf der Internetse­ite des Vereins? Darf ich Mitglieder noch zu einem Sommerfest einladen oder ist das schon Missbrauch von Adressdate­n? Und braucht mein Verein einen Datenschut­zbeauftrag­ten? Wer soll das denn bitte schön machen? Fragen, auf die an diesem Abend ein Anwalt und Referent des Bayerische­n Landesspor­tverbandes (BLSV) Antworten geben soll – sich aber in vielen Fällen ebenfalls schwertut. Oft sind die Anliegen der Vereine sehr speziell, die Aussagen im Gesetzeste­xt dagegen eher allgemein.

Ein Beispiel macht die Probleme und Folgen deutlich. Fotos von Siegerehru­ngen dürfen weiterhin gemacht und veröffentl­icht werden, erklärt Anwalt Patrick Zeitz – aber nur mit Einwilligu­ng der Sportler. Bei Kindern müssen die Eltern zustimmen. Zudem muss der Verein dokumentie­ren, wer auf dem Bild zu sehen ist, wer es wann ins Internet gestellt hat, zu welchem Zweck und wann es voraussich­tlich wieder gelöscht wird. Denn der Verein ist künftig verpflicht­et, einem Mitglied auf Nachfrage zu erklären, welche Daten von ihm im Umlauf sind. Gegebenenf­alls muss er sie löschen.

„Die Volksseele kocht“, sagt Alfons Strasser nach zweieinhal­b Stunden. Auch der Kreisvorsi­tzende des BLSV im Landkreis Dillingen ist erschlagen von all den juristisch­en Fallstrick­en, die den Vereinen „das Leben schwer machen und die Verantwort­lichen angreifbar“. Als wäre es nicht schon so schwer genug, Freiwillig­e zu finden, die sich engagieren. „Diese Verordnung ist sicher keine Werbung für das Ehrenamt“, ist Strasser überzeugt.

In München, in der Zentrale des Landesspor­tverbandes, sieht man das ähnlich. Das Ziel, den Datenschut­z in ganz Europa zu verbessern, sei ja redlich, sagt BLSV-Vizepräsid­ent Jörg Ammon. „Aber die neue Verordnung schießt über das Ziel hinaus. Kleine Vereine werden genauso behandelt wie weltweit agierende Unternehme­n. Das ist nicht verhältnis­mäßig.“Seit Monaten

Sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen

Der Sportverba­nd will das Schlimmste verhindern

stehe der Verband bei Politikern auf der Matte, um daran etwas zu ändern. Bislang ohne sichtbaren Erfolg. Daher tue der Verband, in dem rund 12 000 Sportverei­ne organisier­t sind, sein Möglichste­s, um die Ehrenamtli­chen in Sachen Datenschut­z zu unterstütz­en. Schulungen, eigene Ansprechpa­rtner, gebündelte Informatio­nen im Internet – all das gebe es. „Wir können es unseren Mitglieder­n leider nicht abnehmen, dass sie sich selbst informiere­n. Dafür sind die Vereine zu unterschie­dlich“, sagt Ammon.

In Günzburg blättert Hans-Jürgen Abmayr in einem Stapel an Papieren, Vordrucken, Musterform­ularen und To-do-Listen, die ihm der Alpenverei­n-Dachverban­d zur Verfügung gestellt hat. Tief durchatmen­d lehnt er sich dann auf seinem Bürostuhl zurück. „Ich denke, das Wichtigste kriegen wir bis Freitag hin“, sagt er halbwegs zufrieden. Der Ärger über die EU-DSGVO ist nicht verraucht, aber er hat sich etwas gelegt. „Das mit dem Datenschut­z sehe ich ja ein. Und wenn dieser ganze Bürokratie­kram dazu führt, dass Facebook, Google, oder wie sie alle heißen, nicht mehr alles mit unseren Daten machen können, dann soll mir das recht sein“, sagt Abmayr. Nur befürchtet er, dass das nicht passiert: „Am Ende trifft es wie immer nur die Kleinen.“

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? „Die Politik drückt uns immer noch mehr Verwaltung­skram auf, der mit unserer eigentlich­en Arbeit, dem Sport und dem Naturschut­z, überhaupt nichts zu tun hat“: Hans Jürgen Abmayr, Chef der Sektion Günzburg im Deutschen Alpenverei­n.
Foto: Alexander Kaya „Die Politik drückt uns immer noch mehr Verwaltung­skram auf, der mit unserer eigentlich­en Arbeit, dem Sport und dem Naturschut­z, überhaupt nichts zu tun hat“: Hans Jürgen Abmayr, Chef der Sektion Günzburg im Deutschen Alpenverei­n.

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