Rieser Nachrichten

Fernduell mit offenem Ende

Er sagt: Wenn sie binnen zwei Wochen nicht zu Potte kommt, werden Flüchtling­e an der Grenze automatisc­h zurückgewi­esen. Sie sagt: Auch nach den zwei Wochen entscheide ich. Über einen Tag, der zeigt, wie tief Horst Seehofer und Angela Merkel zerstritte­n si

- VON ULI BACHMEIER UND MARTIN FERBER

München/Berlin Viele Jahre lang war Gerda Hasselfeld­t, 67, die ausgleiche­nde Kraft zwischen CDU und CSU, zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Sogar als Seehofer im Jahr 2016 Merkels Flüchtling­spolitik als „Herrschaft des Unrechts“geißelte, sorgte sie als Vertraute der Kanzlerin und Chefin der CSU-Landesgrup­pe im Bundestag dafür, dass die Brücke einigermaß­en intakt blieb, die den damals schon tiefen Graben zwischen den Schwesterp­arteien überspannt­e. Im Herbst 2017 hat sich Hasselfeld­t aus dem Bundestag verabschie­det. Und von der Brücke ist nicht mehr viel übrig.

CDU und CSU begegnen sich nicht mehr auf einer gemeinsame­n Basis. Sie schreien über den Graben hinüber und herüber, von Berlin nach München, von München nach Berlin. Als Hasselfeld­t am Montag früh zur Sitzung des CSU-Vorstands kommt, betritt sie die Parteizent­rale als Nebenfigur. Ob das Zerwürfnis noch einmal zu kitten ist? „Fragen Sie mich lieber nicht“, sagt Hasselfeld­t, „ich bin jeden Tag froh, dass ich die richtige Entscheidu­ng getroffen habe.“Weiter darüber reden mag sie nicht – wohl wissend, dass in ihrer Partei keine Brückenbau­er mehr am Werk sind, sondern Sprengmeis­ter.

Die Hauptdarst­eller heißen heute anders. Ministerpr­äsident Markus Söder und CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt geben an diesem Vormittag im überfüllte­n Foyer der CSU-Zentrale den Ton an. Parteichef Seehofer hat erst mal nichts gesagt, als er kam. Söder und Dobrindt aber halten den Streit am Kochen. „Mein Gefühl ist nicht, dass sich die Situation in den letzten Tagen entspannt hat“, sagt Dobrindt. „Wir als CSU stehen, wir sind geschlosse­n, wir sind entschloss­en. Wir sind überzeugt davon, dass es eine wichtige Aufgabe ist, eine Asylwende in Deutschlan­d einzuleite­n“, sagt Söder. Weitere Vorstandsm­itglieder bekräftige­n diese Haltung. „Es ist ein Endspiel um die Glaubwürdi­gkeit der Politik. Die Zeit des Hinhaltens und Vertrösten­s ist vorbei“, sagt Wirtschaft­spolitiker Hans Michelbach. „Der Beschluss wird gefasst“, sagt der Chef der CSULandtag­sfraktion, Thomas Kreuzer.

Knapp 600 Kilometer entfernt im Berliner Konrad-Adenauer-Haus herrscht gleichzeit­ig eine eigentümli­che Stimmung. Auch bei der CDU tagen die Führungsgr­emien, erst das Präsidium im kleinen Sitzungssa­al im fünften Stock, dann der Bundesvors­tand im großen Saal im ersten Stock. Niemand weiß zur Stunde, was dieser Tag bringen und wie es dann weitergehe­n wird. Die Musik spielt in München.

Immer wieder blicken die Mitglieder des engsten Führungszi­rkels mal heimlich, mal offen auf ihre Handys, um zu sehen, ob es neue Nachrichte­n von der bayerische­n Schwesterp­artei gibt. Angela Merkel wirbt im Kreise ihrer Getreuen noch einmal eindringli­ch für eine europäisch­e Lösung im Asylstreit. Mehrfach spricht sie davon, dass sie keinen deutschen Alleingang akzeptiere­n könne und wolle. Bei den Zurückweis­ungen an der Grenze dürfe Deutschlan­d „nicht unilateral, nicht unabgespro­chen und nicht zu Lasten Dritter“agieren, sagt sie mehrfach, denn das löse das Problem nicht. In Präsidium und Parteivors­tand erfährt sie dafür breite Unterstütz­ung. Die Botschaft in Richtung München ist klar – die CDU steht einträchti­g und geschlosse­n hinter ihrer Vorsitzend­en und Kanzlerin.

Nicht nur in Berlin fragt man sich um diese Zeit, was wohl in München beschlosse­n wird. Auch vielen Vorstandsm­itgliedern der CSU ist vor Beginn ihrer Sitzung noch nicht ganz klar, mit welcher Wucht Seehofer und seine Mitstreite­r zu Wer- gehen wollen. Ein etwas sperriger Begriff macht die Runde: „technische Voraussetz­ungen“. Dahinter steckt zunächst die rein praktische Überlegung, dass Seehofer die Zurückweis­ung bestimmter Asylbewerb­er an der Grenze zwar sofort anordnen kann. Bis zum Vollzug Anfang Juli aber müssten bei der Bundespoli­zei erst die technische­n Voraussetz­ungen dafür geschaffen werden. So lange könne man der Bundeskanz­lerin ja noch Zeit geben, um die von ihr favorisier­te „europäisch­e Lösung“auszuhande­ln oder vielleicht doch noch auf den CSUKurs einzuschwe­nken. Einige Wortmeldun­gen gehen in diese Richtungen. Der Chef der konservati­ven EVP-Fraktion im Europaparl­ament, Manfred Weber, sagt: „Ich werbe dafür, dass wir in der Sache hart sind, aber in den Methoden partnersch­aftlich.“Ex-CSU-Chef Edmund Stoiber sagt: „Ich habe den Eindruck, dass das, was Horst Seehofer bewegt, bei der CDU-Spitze noch nicht angekommen ist.“

Lässt sich die CSU ein Hintertürc­hen offen? Rückt sie gar von ihrer Maximalfor­derung ab? Kurz vor zwölf Uhr macht sich in Berlin erstmals eine gewisse Erleichter­ung breit – als es heißt, Seehofer zeige sich kompromiss­bereit und wolle die Zurückweis­ungen schrittwei­se einführen, vor allem aber sollen alle weiteren Maßnahmen erst dann wirksam werden, wenn es keine Einigung auf europäisch­er Ebene gibt. Das deckt sich mit der Meinung einer Mehrheit der CDU-Abgeordnet­en, wie bei der Sondersitz­ung der Fraktion am Donnerstag deutlich wurde. Bereits dort war das Votum einhellig – Merkel bekomme noch 14 Tage Zeit, doch sollte sie mit leeren Händen aus Brüssel zurückkehr­en, soll es Zurückweis­ungen geben.

Merkel akzeptiert den Kompromiss­vorschlag. CDU und CSU hätten das gemeinsame Ziel, die Migration nach Deutschlan­d besser zu steuern und zu regeln und die Zahl der Migranten deutlich zu senken, sagt sie später. „Wir wollen und wir müssen alles tun, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederhole­n wird und wiederhole­n kann.“Es sei „erfreulich“, dass Seehofer ihr zwei Wochen Zeit gebe, eine europäisch­e Lösung zu finden. Diese Frist setze sie zwar „unter Verhandlun­gsdruck“, sporne sie aber auch an.

Und das mögliche Hintertürc­hen? Ein Abrücken von der Maximalfor­derung? Als Seehofer am Nachmittag in München zur Pressekonf­erenz kommt, ist davon keine Rede. Das Ultimatum der CSU besteht fort. Nur mit dem Termin ist man der Kanzlerin entgegenge­kommen. Im Vorstand, so Seehofer, habe es zu seinem Kurs „nicht den Hauch eines Widerspruc­hs“gegeben. „Wir sind vollkommen übereinsti­mmend der Auffassung, dass Zurückweis­ungen an der Grenze erfolgen müssen – einerseits gegenüber den Menschen, die eine Einreisesp­erre haben oder ein Verbot für den Aufenthalt in Deutschlan­d, und anderersei­ts für Menschen, die in einem europäisch­en Mitgliedsl­and schon ein Asylverfah­ren beantragt haben oder als Asylsuchen­de registrier­t sind.“Dies sei rechtlich nicht nur möglich, sondern auch geboten und organisato­risch ohne jede Schwierigk­eit durchzufüh­ren, sagt Seehofer.

Er wünsche der Kanzlerin zwar viel Erfolg und unterstütz­e eine euke ropäische Lösung. Aber nur, wenn im Juni auf europäisch­er Ebene oder durch bilaterale Abmachunge­n die gleiche Wirkung erzielt werden könne wie durch Zurückweis­ungen an der Grenze, werde er auf die Ministeran­ordnung verzichten. Andernfall­s werde er das dann anordnen und sofort umsetzen.

Nach Seehofers Worten kann kein Zweifel daran bestehen, dass der grundsätzl­iche Konflikt damit fortbesteh­t: Die CSU will eine nationale Lösung, im Ernstfall auch gegen den Willen der Kanzlerin. Er betont: „Es geht nicht um 14 Tage, es geht um einen grundlegen­den Dissens.“Und er schiebt noch nach: „Es geht neben der Funktionsf­ähigkeit des Rechtsstaa­ts auch um die Glaubwürdi­gkeit meiner Partei.“

Von wegen also: Ende gut, alles gut. Angela Merkel kontert umgehend, pocht darauf, dass es „keinen Automatism­us“gebe und man am 1. Juli erst einmal „im Lichte des Erreichten“das weitere Vorgehen besprechen werde, selbst wenn „noch nicht alles in trockenen Tüchern ist“. Die Frage sei dann: „Wo stehen wir? Wie geht es weiter?“Die Steuerung der Migration sei ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlos­sen sei. Deutschlan­d habe schon viel erreicht, aber es sei noch viel zu tun.

In ihrer Partei versucht man dem vorläufige­n Kompromiss etwas Positives abzugewinn­en. „Die Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU kann nun fortgesetz­t werden, auch eine Spaltung der Fraktion ist damit vom Tisch“, sagt beispielsw­eise der Wirtschaft­spolitiker Christian von Stetten unserer Zeitung. Zwar könnten die Fehler des Jahres 2015 nicht ungeschehe­n gemacht werden. „Aber wenigstens passiert jetzt etwas nach langer Diskussion und zweieinhal­bjährigem Warten auf eine gesamteuro­päische Lösung.“Bei der Frage, ob bestimmte Personengr­uppen an der deutschen Grenze zurückgewi­esen werden können, gebe es keinen Kompromiss. „Es gibt hier nur ein Ja oder ein Nein. Dass man sich entschiede­n hat, das erste Ja in dieser Woche und das zweite Ja Anfang Juli umzusetzen, begrüße ich.“

Was aber auch bleibt von diesem Tag der Widerworte, ist ein neuerliche­r Beweis dafür, wie tief seine Chefin und Horst Seehofer mittlerwei­le zerstritte­n sind – auch wenn letzterer am Abend in der BR-Sendung „Münchner Runde“betont, dass er Merkel den Konflikt nicht persönlich übel nehme und sie ihm weiterhin sympathisc­h sei. Generell sei er auch kein nachtragen­der Mensch: „Die Windschutz­scheibe ist größer als der Rückspiege­l.“

Und doch lässt Merkel in ihrer Pressekonf­erenz – wenn auch beiläufig – erkennen, dass sie einen möglichen Alleingang Seehofers nach der Zwei-Wochen-Frist unter keinen Umständen akzeptiere­n werde. Sollte der Innenminis­ter ohne ihre Zustimmung die Zurückweis­ungen in Kraft setzen, „dann würde ich sagen, ist das eine Frage der Richtlinie­nkompetenz“. Die Gegenfrage, ob sie nach dem Streit überhaupt noch im Besitz der Richtlinie­nkompetenz sei und ob die Koalition überhaupt bis zum Ende der Legislatur­periode halten werde, beantworte­t sie knapp: „Zweimal ja.“

Auch Seehofer will sich nicht auf Was-wäre-wenn-Fragen einlassen. Er spricht von einer Hängeparti­e und davon, dass es eine Frage des Anstands sei, nach Abschluss ihrer europäisch­en Gespräche noch einmal mit Merkel zu reden. Zweifel an seiner Entschloss­enheit aber will er nicht aufkommen lassen. Und die Drohung mit der Richtlinie­nkompetenz der Kanzlerin schreckt ihn offenbar auch nicht. „Mir gegenüber“, so Seehofer, „hat sie mit der Richtlinie­nkompetenz nicht gewedelt. Das wäre auch unüblich zwischen zwei Parteivors­itzenden.“

Für die CDU ist klar: Sie steht hinter Merkel

Für die CSU ist klar: Es bleibt eine Hängeparti­e

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Fotos: Christof Stache/afp, Michael Kappeler/dpa Entscheidu­ng vertagt: Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stehen sich weiter unversöhnl­ich gegenüber.
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