Berlin sagt: Goodbye, Sir Simon
Abschied als Chef der Philharmoniker
Berlin Die Locken hat er gezähmt, sein Haar ist weiß geworden: Wenn Simon Rattle nach 16 Jahren am Mittwoch sein letztes Konzert als Chefdirigent in der Berliner Philharmonie dirigiert, schließt sich für den Briten ein Kreis. Bei seinem ersten Gastauftritt hatte der Sonnyboy aus Liverpool 1987 Gustav Mahlers 6. Sinfonie dirigiert – genau wie jetzt zum Abschied. Rattle, 63, wechselt zum London Symphony Orchestra, das er im Wechsel mit Berlin seit einem Jahr leitet.
Seit Wochen bereiten die Philharmoniker den Abschied vor, das letzte Philharmonie-Konzert wird live in über 200 deutsche und europäische Kinos übertragen. „Goodbye, Sir Simon“betitelt das Philharmonie-Magazin „128“seine jüngste Ausgabe. Ganz vergessen sind die Anlaufschwierigkeiten nach seinem Antritt 2002 nicht. „Dieses Orchester macht sich das Leben wirklich nicht leicht. Aber wenn man am Ziel ist und die Blasen an den Füßen verheilt sind, dann weiß man, dass es die Sache wert war“, sagt Rattle im Interview des Magazins.
Geholt wurde er, um die Philharmoniker ins 21. Jahrhundert zu führen. In Birmingham hatte er das städtische Orchester zu einem Vorzeige-Ensemble reformiert. In Berlin sollte der coole Brite nach dem Orchester-Herrscher Herbert von Karajan und dem Bewahrer Claudio Abbado den Philharmonikern eine Verjüngungskur verpassen. Neben einem erweiterten Repertoire sollte sich das Orchester der Gesellschaft öffnen. Das ist den Philharmonikern und ihrem Chef gelungen. Ob Filme in 3D, Live-Übertragungen in Kinos, die Digital Concert Hall als Internet-Stream – mit Rattle waren sie plötzlich auf allen Kanälen.
Die Neugierde des Briten schien keine Grenzen zu haben, und er zog das zunächst zögerliche Orchester mit. Von Joseph Haydn bis John Adams – Rattle durchschritt Jahrhunderte Musik mit unbändiger Energie und leichten Fußes. Kritiker warfen ihm vor, das symphonische Kernrepertoire zu vernachlässigen, das Orchester widersprach – Rattle habe auch Wagner, Brahms und Bruckner im Gepäck. Als Zeichen des Vertrauens stimmte es 2008 einer Vertragsverlängerung vorzeitig zu.
Das Leben in Berlin veränderte auch Rattle. Er wird in Zukunft mit seiner Frau, der Mezzosopranistin Magdalena Kozˇená, und seinen Kindern den Lebensmittelpunkt in der Stadt behalten und nach London pendeln. „Berlin war meine erste Erfahrung als Immigrant“, sagte er einmal. „Bis dahin hatte ich immer in meiner eigenen Kultur und Sprache gelebt.“Deswegen reagierte Rattle auch allergisch auf Vorhaltungen, er sei eigentlich nicht der richtige Dirigent für den „deutschen Klang“, jene dunkle Farbe, wie sie etwa Daniel Barenboim und seine Berliner Staatskapelle pflegen.
Rattles früh abzusehender Abschied stellte das Orchester vor eine schwere Probe. Erst in einem zweiten Wahlgang einigten sich die Philharmoniker auf den Russen Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Rattle, das kündigte er bereits an, wird aber auch in Zukunft die Philharmoniker dirigieren – als Gast, wie schon vor mehr als 30 Jahren. Esteban Engel, dpa