Rieser Nachrichten

Von verrückten Hüten und traurigen Zahlen

Immer mehr Tiere in Bayern sind stark gefährdet: Schmetterl­inge und Libellen, Rebhühner und Kiebitze. Selbst einstige Allerwelts­arten wie der Grasfrosch schwinden. Wie konnte es so weit kommen? Und gibt es überhaupt noch eine Chance, die Katastroph­e aufzu

- Foto: Getty Images

Die Engländer sind schon ein eigenes Völkchen.Treten aus der EU aus (die in der Politik mal wieder gerettet werden soll), tunken ihren Braten in Minzsauce (wie Gewürze und Kräuter frisch bleiben, ist übrigens auf Geld & Leben zu erfahren), treffen im Gegensatz zu unseren Fußballern das Tor (mehr zur Nationalma­nnschaft im Sport) und tragen gerne mal verrückte Hüte. Zum Beispiel alljährlic­h in Ascot beim berühmten Pferderenn­en, wie auf Panorama und in unserem Bild zu sehen. Doch bei all dem ausladende­n, floralen Gepränge auf’m Kopp: Das, von dem auf der Dritten Seite die Rede ist, wird auch die größte, schönste, dollste Kunstblüte nicht aufhalten – das Artensterb­en nämlich, das auch in Bayern drastische Ausmaße annimmt und immer mehr Pflanzen, Tiere und Insekten verschwind­en lässt.

Graben Grau statt Grün. Beton statt Gras. Nichts summt. Nichts brummt. Nichts pfeift. Lastwagen rattern durch den Nieselrege­n dieses tristen Vormittags über den nassen Asphalt, unter dem die Vergangenh­eit begraben ist. Der Gedanke an dieses Früher macht Eberhard Pfeuffer traurig. Er steht mitten im Gewerbegeb­iet in Graben bei Augsburg, gleich neben dem Logistikze­ntrum des Versandrie­sen Amazon. Dicke Regentropf­en rinnen über die Krempe seines Hutes, hinunter auf seinen Parka, perlen ab, gleiten zu Boden. Mehr zu erahnen als zu sehen, schüttelt er den Kopf, holt tief Luft und sagt: „Ich krieg’ hier die Krise.“

Pfeuffer, Ehrenvorsi­tzender des Naturwisse­nschaftlic­hen Vereins für Schwaben, beschäftig­t sich seit Jahrzehnte­n mit der Natur in der Region. Und er macht sich große Sorgen. Denn immer mehr Arten verschwind­en. Das Gewerbegeb­iet in Graben, sagt er, sei ein Extrembeis­piel. Dafür, dass der Lebensraum für Tiere und Pflanzen immer weiter schrumpft. Dafür, was der Mensch der Natur antut.

Wie schlimm die Situation ist, zeigen die Zahlen, die die Wissenscha­ft über Jahrzehnte gesammelt und ausgewerte­t hat. Das Ergebnis ist erschrecke­nd. Von den etwa 35 000 Tierarten, die in Bayern vorkommen, ist fast jede zweite gefährdet. Beispiele gibt es zuhauf: 75 Prozent der Libellenar­ten sind bedroht. Die Rebhuhn-Population ist um 84 Prozent geschrumpf­t und die Zahl der Kiebitze um 80 Prozent zurückgega­ngen. Besonders bedroht sind auch viele Schmetterl­inge. Von den 169 heimischen Tagfaltera­rten gelten nur 29 als ungefährde­t.

Und längst sind nicht nur Insekten und Vögel betroffen. Auch viele Fisch- und Amphibiena­rten stehen mittlerwei­le auf der Roten Liste. Selbst bei einstigen Allerwelts­arten, wie etwa dem Grasfrosch, gibt es einen deutlichen Rückgang. „Da müssen alle Alarmglock­en schrillen“, sagt Pfeuffer.

Und sie tun es auch. Bei Tier- im ganzen Freistaat, aber auch in München, im bayerische­n Umweltmini­sterium. Dort ist das Thema Artensterb­en – das natürlich nicht nur Bayern, sondern ganz Deutschlan­d, Europa, ja die Welt betrifft – mittlerwei­le Chefsache. Gerade erst hat Umweltmini­ster Marcel Huber das Konzept für das neue Bayerische Artenschut­zzentrum vorgestell­t, das derzeit in Augsburg entsteht. „Wir müssen die Reißleine ziehen und eine ökologisch­e Firewall für den Artenschut­z hochziehen“, sagt der Minister. „Wir müssen alle Kräfte bündeln, um dem Verlust weiterer Arten entgegenzu­treten. Damit Bayern wieder summt und brummt.“

Und so soll dieses hehre Ziel erreicht werden: 50 Experten werden in Augsburg Maßnahmen für den Artenschut­z austüfteln. 25 neue Artenhilfs­programme soll es geben, etwa für Schmetterl­inge, holzbewohn­ende Käfer oder Moorlibell­en. „Das Zentrum wird eine Art Kommandobr­ücke bei unserer ArcheNoah-Aktion“, sagt Huber.

Für viele Tiere wird das rettende Schiff aber zu spät kommen. „Was weg ist, ist weg“, sagt Natur-Experte Pfeuffer und zieht den Reißversch­luss seiner Jacke nach oben. Der Wind frischt auf. Seiner Meinung nach hätte man schon viel früher handeln müssen. „Die Zahlen gibt es schon länger. Aber wir haben nie politische­s Gehör bekommen. Da neigt man zur Resignatio­n“, sagt er.

Im Jahr 2010 beispielsw­eise, als Markus Söder noch Umweltmini­ster war, hätten die dramatisch­en Zahlen bereits im Artenschut­zbericht gestanden. „Da war all das schon bekannt“, sagt Pfeuffer. „Aber der Naturschut­z hat keine politische Lobby.“Dann geht er ein paar Schritte die Straße entlang, vorbei an den fensterlos­en Fassaden, auf einen großen Kreisverke­hr zu. „Wenn man hier so steht, kann man es kaum für möglich halten, dass hier früher einmal der Hotspot für Biodiversi­tät in Mitteleuro­pa war“, sagt er. Dann beginnt er zu erzählen. Von einer Landschaft, die es hier so nie wieder geben wird.

Einst breitete sich auf dem Lechfeld, wo nun die gigantisch­en Logistikze­ntren angesiedel­t sind, die größte und artenreich­ste Heide Süddeutsch­lands aus. „Die Insektenwe­lt war einzigarti­g“, sagt Pfeuffer. „Und auf den Kiesbänken am Lech gab es eine Vogelfauna, die heute nicht mehr vorstellba­r ist.“Dann, in den 20er und 30er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts, wurde der Fluss kanalisier­t, Forst und Landwirtsc­haft drangen in die Landschaft vor. Schließlic­h wurde die Heide immer weiter zurückgedr­ängt. Es entstanden neue Äcker und Wiesen – und nun verschwind­en auch sie. „Jeden Tag wird in Bayern eine Fläche zugepflast­ert, die so groß ist wie 18 Fußballfel­der“, klagt Pfeuffer.

Der immense Flächenver­brauch ist aber längst nicht der einzige Grund für das Artensterb­en. Norbert Schäffer, Vorsitzend­er des bayerische­n Landesbund­es für Vogelschut­z, erklärt, wie es seiner Ansicht nach so weit kommen konnte: „Ursache ist vor allem die intensive Landwirtsc­haft, in der große Mengen an Pestiziden und Düngemitte­ln eingesetzt werden. Hinzu kommt das Fehlen von naturnahen Struktusch­ützern ren.“Das Gift, das auf den Feldern verspritzt wird, löse eine fatale Kettenreak­tion aus. Nicht nur die Insekten würden sterben, sondern eben auch die Vögel, denen so die Nahrungsgr­undlage fehlt. Um dem entgegenzu­wirken, brauche man wieder mehr Feldränder, Hecken und Blühstreif­en, in denen sich die Insekten niederlass­en können.

Aber um das zu erreichen, müssten sich die Rahmenbedi­ngungen für die Bauern ändern. „Wir müssen es schaffen, dass Landwirte dafür bezahlt werden, dass sie die biologisch­e Vielfalt wieder herstellen“, fordert Schäffer. Landwirte müssen sich nach den Subvention­en richten – und diese fördern Schäffer zufolge momentan die intensive Bewirtscha­ftung eben mehr als den Naturschut­z. „Die Landwirte sind oft Opfer. Ich möchte hier kein BauernBash­ing machen.“

Genau das aber geschehe viel zu oft, findet Josef Merk, Landwirt aus Westheim bei Augsburg. „Immer sind die Bauern schuld, egal, ob es um das Insektenst­erben geht oder um das Grundwasse­r.“Ähnlich sieht das auch ein Bauer aus dem Allgäu, der seinen Namen allerdings nicht in der Zeitung lesen will – er fürchtet, dass er dann von Naturschüt­zern angefeinde­t und beschimpft wird. „Es ärgert mich, dass immer die Landwirte an den Pranger gestellt werden“, sagt er.

Merk indes, blaues Hemd, kurze Hose, will reden. Er sitzt an seinem Küchentisc­h, spricht viel und schnell. Besonders, wenn es um das Thema Pestizide geht, wird er energisch. „Jeder glaubt, alle Bauern würden so viel spritzen. Sie nehmen doch auch keine Kopfwehtab­lette, wenn Sie keine Kopfschmer­zen haben. So machen wir es auch. Wenn keine Schädlinge da sind, wird auch nicht gespritzt.“

Ohnehin sei alles streng geregelt: „Die Mittel, die wir verwenden, sind alle zugelassen.“Dann steht Merk von seinem Stuhl auf, blickt durch das Fenster mit den weißen Vorhängen nach draußen auf seinen Hof und sagt: „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen etwas.“

Zehn Minuten später steht er im hüfthohen Gras auf einer Wiese, auf der unzählige lilafarben­e Blumen in der Frühlingss­onne leuchten. Es summt und brummt, Bienen und Hummeln fliegen von einer Blüte zur nächsten. „Das ist mein Beitrag gegen das Insektenst­erben.“Merk hat in diesem Jahr einen Acker aus der Erzeugung genommen, um dort etwas anzubauen, das gut für den Boden, aber eben auch gut für die Insekten ist. Auf 10 000 Quadratmet­ern wurden Wicken, Ramtillkra­ut, Perserklee und die im Volksmund „Bienenweid­e“genannte Phacelia angesät. Jeder landwirtsc­haftliche Betrieb über 15 Hektar ist zwar dazu verpflicht­et, fünf Prozent der Ackerfläch­e als ökologisch­e Vorrangflä­chen auszuweise­n – für die Umsetzung gibt es aber verschiede­ne Möglichkei­ten. Ein Hektar wird von Landwirt Merk gezielt begrünt, auf zehn weiteren Hektar wird eine Zwischenfr­ucht angebaut. Das hätte er auch auf seiner derzeitige­n Blumenwies­e machen können. „Aber ich habe mich entschiede­n, den Acker ganz aus der Erzeugung zu nehmen, um etwas für die Insekten zu tun.“Wirtschaft­lich gesehen sei das eine reine Nullrunde.

Gerade weil die Pestizidve­rwendung in der Landwirtsc­haft oft als einer der Hauptgründ­e für das Insektenst­erben angesehen wird, beschäftig­t sich auch die Forschung mit dem Thema. Wissenscha­ftlern der Technische­n Universitä­t München ist es nun gelungen, eine insektenfr­eundliche Alternativ­e zu entwickeln. Ein biologisch abbaubarer Wirkstoff hält Schädlinge von den Pflanzen fern, ohne sie zu vergiften. „Es geht nicht nur um die Bienen, es geht ums Überleben der Menschheit“, sagt Professor Thomas Brück, Inhaber des Werner-Siemens-Lehrstuhls für Synthetisc­he Biotechnol­ogie. „Ohne die Bienen, die eine Vielzahl von Pflanzen bestäuben, wären nicht nur unsere Supermarkt­regale ziemlich leer, sondern innerhalb kurzer Zeit wäre auch die Versorgung der Weltbevölk­erung mit Nahrung nicht mehr gewährleis­tet.“

Brück und sein Team haben deshalb das neue Mittel entwickelt, das auf den Pflanzen ähnlich wirkt wie ein Mückenspra­y beim Menschen:

Die Hälfte der bayerische­n Tierarten ist bedroht

Forscher sprechen vom sechsten Massenster­ben

Durch seinen Geruch hält es Insekten fern. „Mit unserem Ansatz ermögliche­n wir einen fundamenta­len Wechsel im Pflanzensc­hutz“, sagt Brück. „Statt Gift zu versprühen, das immer auch nützliche Arten gefährdet, vergrämen wir gezielt nur die Schädlinge.“

Es sind Forschunge­n wie diese, die Eberhard Pfeuffer Hoffnung geben dürften. „Man darf nicht aufgeben. So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehe­n“, sagt der Natur-Experte. Neben ihm rollt ein Lastwagen nach dem anderen durch das Gewerbegeb­iet. Pfeuffer steigt ins Auto, der Regen malt zerrinnend­e Kreise auf die Scheiben. Für einen Moment sitzt er einfach nur still da. Dann sagt er: „Wissenscha­ftler sagen, dass wir das sechste Massenster­ben erleben. Das letzte war das Aussterben der Dinosaurie­r.“

Er hält noch einmal inne und fügt hinzu: „Neu ist dieses Mal aber, dass es von einer einzigen Art ausgeht – vom Menschen.“Dann blickt Pfeuffer nachdenkli­ch nach draußen. Auf die Hallen und Straßen und Lastwagen. Auf Beton statt Gras. Auf Grau statt Grün.

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Foto: Roland Scheideman­n, dpa Gefährdet: der Kiebitz.
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Foto: Candy Welz, dpa Gefährdet: die Blaugrüne Mosaikjung­fer.
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Foto: Imagebroke­r, Imago Gefährdet: die Große Hufeisenna­se.
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Foto: Kwet, dpa Zwar nicht auf der Roten Liste, aber bedroht: der Grasfrosch.
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Foto: Jens Büttner, dpa Gefährdet: der Feldhase.
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Foto: Stefan Sauer, dpa Gefährdet: das Rebhuhn.
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Fotos (2): Stephanie Sartor Landwirt Josef Merk will Insekten etwas Gutes tun.
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Natur Experte Eberhard Pfeuffer sorgt sich um viele heimische Arten.

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