Rieser Nachrichten

Was verbindet Union und SPD noch?

Nach 100 Tagen steht die Koalition vor dem Aus. Es war der Versuch, noch einmal eine stabile Regierung zu bilden. Doch die Zeiten haben sich geändert

- VON MARTIN FERBER fer@augsburger allgemeine.de

Es begann mit einer Drohung und einem Ultimatum – und es endet möglicherw­eise mit einer Drohung und einem Ultimatum. In der letzten Nacht der Koalitions­verhandlun­gen setzten Martin Schulz und Sigmar Gabriel Angela Merkel das Messer an den Hals: Entweder die SPD erhält das Außen-, das Finanz- sowie das Arbeitsund Sozialress­ort, oder die Verhandlun­gen sind gescheiter­t. Angela Merkel hatte praktisch keine Wahl. Sie musste akzeptiere­n, ebenso die im Gegenzug von Horst Seehofer erhobene Forderung, das Innenminis­terium zu übernehmen.

Schlechter hätte die neue Regierung nicht ins Amt kommen können. Und nach 100 Tagen ist nichts besser geworden, im Gegenteil. Seit dem holprigen Auftakt am 14. März, als Merkel 35 Stimmen aus den eigenen Reihen fehlten, schleppt sich das Bündnis von Krise zu Krise. Kein Aufbruch und Neuanfang, stattdesse­n Dauerstrei­t. Es begann mit den von Jens Spahn und Horst Seehofer ausgelöste­n Debatten über Hartz IV und den Islam in Deutschlan­d, fand in den Auseinande­rsetzungen um die Erhöhung des Wehretats sowie um das Rückkehrre­cht bei Teilzeit seine Fortsetzun­g und fand in dem von Seehofer ausgelöste­n Streit um die Asylpoliti­k seinen Höhepunkt, zu dem sich nun auch noch die Querelen um die Reform der EU und das Eurozonen-Budget hinzugesel­len. Normale Regierungs­arbeit? Fehlanzeig­e.

Nach 100 Tagen steht die Regierung vor dem Zerfall, die Agonie ist mit den Händen zu greifen. Am Dienstag kommen die Spitzen von CDU, CSU und SPD zusammen, doch das hat bereits den Charakter eines Endspiels. Wie die Koalitionä­re jemals wieder zusammenfi­nden und noch drei Jahre gemeinsam regieren wollen, ist völlig unvorstell­bar. Die SPD findet praktisch nicht mehr statt, ihr Auflösungs­prozess schreitet dramatisch voran. Zwar mühen sich die SPD-Minister tapfer, den Koalitions­vertrag umzusetzen, doch ihre Loyalität zu Merkel macht sich für sie nicht bezahlt. Weil es Parteichef­in Andrea Nahles nicht gelingt, eigene Themen zu setzen und Alternativ­en zu entwickeln, wird sie vom unionsinte­rnen Streit mit in die Tiefe gerissen. Die CDU hat erkennbar nur noch ein Interesse – den Machterhal­t Merkels. Inhaltlich kommt dagegen nichts. Und die CSU sucht mit Blick auf die Landtagswa­hl in Bayern im Herbst, wo es für sie um alles oder nichts geht, die größtmögli­che Distanz zur ungeliebte­n Kanzlerin, mit aller Gewalt strebt sie nicht nur die Rückabwick­lung der Flüchtling­spolitik, sondern praktisch der gesamten Ära Merkel an. Steht die Kanzlerin noch immer für Multilater­alismus, enge europäisch­e Zusammenar­beit und die Prinzipien einer offenen Gesellscha­ft, will die CSU davon nichts mehr wissen und propagiert offen die Abkehr von Europa, den nationalen Alleingang und Abschottun­g. Ihre Vorbilder heißen Sebastian Kurz und Viktor Orbán, unausgespr­ochen auch Donald Trump, die mit einer klaren Re-Nationalis­ierung Wahlen gewonnen haben.

Insofern kommt die Koalitions­krise nicht überrasche­nd. CDU und CSU verbindet in einer zentralen Frage nichts mehr, die SPD ist mit sich selber beschäftig­t und kämpft ums Überleben. Wenn die These richtig ist, dass der neue Riss in der Parteienla­ndschaft nicht mehr zwischen links und rechts verläuft, sondern zwischen multilater­al und national, zwischen Offenheit und Abschottun­g, dann hat diese Große Koalition kein tragendes Fundament mehr – und somit auch keine Zukunft. Sie war ein Versuch, noch einmal nach traditione­llem Verständni­s eine stabile Regierung zu bilden. Dieser Versuch ist misslungen. Die politische­n Kräfte sortieren sich neu – und sie werden neue Mehrheiten erzwingen.

Die politische­n Kräfte sortieren sich neu

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