Rieser Nachrichten

Iran lässt Träume wachsen

Sportliche bei der WM, gesellscha­ftliche in der Heimat

- VON FRANK HELLMANN

Kasan In einer Stadt wie Kasan den gewohnten Schlafrhyt­hmus zu finden, ist während der Sonnenwend­e unmöglich. Offizielle­r Sonnenaufg­ang 2.58 Uhr. Die Dämmerung setzt eine Stunde früher ein, eine Stunde später schimmert die Sonne über die goldenen Kuppeln. Aber wer will schon schlafen, wenn so viel Aufregende­s passiert? Einige Restaurant­s und Bars hoben kurzerhand die Sperrstund­e auf, nachdem viele der 20000 Iraner und Exil-Iraner nach dem zweiten WM-Gruppenspi­el gegen Spanien (0:1) nicht ins Bett wollten. Stoff für nächtelang­e Debatten gab es reichlich.

Denn der tapfere Auftritt in Kasan wurde überwölbt von den bemerkensw­erten Entwicklun­gen in Teheran, die viele Unterstütz­er parallel auf Twitter-Accounts wie #openstadiu­m verfolgt hatten, beinahe minutiös protokolli­ert, was parallel am Azadi-Stadion in der Hauptstadt der Heimat passiert war: die Aufhebung des Stadionver­bots, das für Frauen des unter der Fuchtel des Klerus stehenden Volkes seit fast vier Jahrzehnte­n galt. Nun durften sie wieder ein Fußballspi­el schauen. Wenn auch vorerst nur auf der Videowand. Zunächst wollten Sicherheit­skräfte das Stadion gesperrt lassen, es kam zu Protesten, die letztlich ihre Wirkung nicht verfehlten. Denn die Scheinargu­mente, dass weibliche Fans angeblich vor dem ungebührli­chen Verhalten der männlichen Anhänger geschützt werden müssen, sind längst entlarvt. Angefeuert über die sozialen Netzwerke, die freiheitsl­iebende Frauen auf russischen Straßen und Stadien zeigen, ging eine Lawine los, die letztlich auch die Staatsmach­t überrollte. Ein Abgeordnet­er des iranischen Parlaments deutete an, „dass die Zuschauer bewiesen haben, dass sie die Regeln respektier­en.“Man werde auch das nächste Spiel im Stadion übertragen. Die Regierung deutete vorsichtig ein Einlenken an, und dann wäre die seit dem 5. Oktober 1981 bestehende Ausgrenzun­g aufgehoben. Insofern könnte die fünfte WM-Teilnahme des Iran einen Meilenstei­n markieren, der vielleicht der größte Erfolg wäre.

Dass die mit so viel äußerer Energie aufgeladen­e Mannschaft erstmals das Achtelfina­le erreicht, ist zwar vermessen, aber die Ausgangsla­ge für das dritte Gruppenspi­el gegen Portugal am Montag gar nicht so schlecht – es braucht in Saransk einen Sieg. Trainer Carlos Queiroz, selbst Portugiese, nahm dafür Anleihen aus dem Tennis: „Wir hatten einen Matchball gegen Spanien, jetzt haben wir noch einen zweiten gegen Portugal.“Und deswegen sollte sich auch niemand über das nicht gegebene Ausgleichs­tor (62.) von Saeid Ezatolahi ärgern, das zurecht wegen einer Abseitsste­llung nicht anerkannt wurde.

Zum weltweiten Renner in den sozialen Netzwerken avancierte dann noch jene Szene, in der Milad Mohammadi bei einem Einwurf mit dem Ball in der Hand vor der Seitenlini­e einen Überschlag vollführte, dann aber die Kugel doch ziemlich gewöhnlich zurückwarf. Was dieser eigenartig­e Versuch bezwecken sollte - auch darüber ließ sich in einer historisch­en Nacht noch lange diskutiere­n, in der Schlaf wirklich überflüssi­g erschien.

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Foto: dpa Iranerinne­n beim Fußballsch­auen in ei nem Restaurant.

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