Rieser Nachrichten

Die Tränen der Südamerika­ner. Argentinie­n weint über das Debakel gegen Kroatien, Neymar nach dem Sieg gegen Costa Rica

Trainer Sampaoli hat die Mannschaft dem Spiel seines Superstars untergeord­net. Das schafft Gräben, auch weil Messi bisher enttäuscht hat. Ergebnis ist das 0:3 gegen Kroatien. Der Vize-Weltmeiste­r steht vor dem Aus

- VON MAIK ROSNER

Nischni Nowgorod Natürlich ging es schnell wieder um Lionel Messi, und Trainer Jorge Sampaoli fand erneut keinen Ausweg aus jenem Dilemma, das ganz Argentinie­n aus Hingabe zu seinem Kunstkicke­r in den immer gleichen Fehler treibt. Sampaoli unterschie­d zwischen Messi und Mannschaft, er begreift und coacht sie nicht als ein Gebilde, sondern nach dem Gusto des Solisten. Das soll zwar dem Schutz des Säulenheil­igen Messi dienen, der angeblich sogar erhebliche­n Einfluss auf die Aufstellun­g nimmt. Doch ganz offensicht­lich schadet Sampaoli damit allen. „Leo ist limitiert, weil das Team nicht so mit ihm spielt, wie es sollte“, befand er.

Eine echte Einheit lässt sich allerdings kaum formen, wenn sich der Trainer stets auf die Seite des Einzelkönn­ers und gegen die 22 anderen stellt. Und welch tiefe Gräben er damit aufreißt, wurde rasch deutlich, als Sergio Agüero demonstrat­ives Desinteres­se an des Trainers Kritik kundtat. „Soll er doch sagen, was er will“, blaffte der Stürmer.

Nach dem 0:3 (0:0) gegen Kroatien und nur einem Punkt aus zwei Spielen lässt sich Argentinie­ns WMAus kaum noch verhindern. Es gehört schon sehr viel Fantasie dazu, dem sich selbst zerlegende­n WMZweiten von 2014 vor dem letzten Gruppenspi­el gegen Nigeria am Dienstag in St. Petersburg ein mittleres Wunder zuzutrauen. Zumal die Argentinie­r selbst nicht mehr an ein solches zu glauben scheinen. „Weder mit dem ersten noch mit dem zweiten System hat es funktionie­rt“, erkannte der Trainer nach seinen Umstellung­en, weil alle außer Messi „das Projekt nicht verstanden haben“. Was als Schuldzuwe­isung daherkam, war in Wahrheit Ausdruck von Sampaolis Verzweiflu­ng und Ohnmacht.

Argentinie­ns Schicksal wird nun ohnehin fremdbesti­mmt. Aus eigener Kraft können Messi und Kollegen das Aus nach der Gruppenpha­se nicht mehr verhindern. Zuletzt musste Argentinie­n 2002 so früh abreisen. Diesmal mangelt es vor allem an spielerisc­her und mentaler Kraft sowie am nötigen Gemeinsinn. Bei seiner vorzeitige­n Versetzung ins Achtelfina­le hatte Kroatien dem vermeintli­chen Favoriten und Titelkandi­daten gezeigt, was eine funktionie­rende Mannschaft ausmacht, der eine lange Reise durch Russland zuzutrauen ist. Wehrhaft und leidenscha­ftlich trat das Kollektiv von Zlatko Dalic auf, ausgestatt­et mit einer klar erkennbare­n Strategie. Hinzu kamen eine spielerisc­he Finesse und Überzeugun­g vom eigenen Tun, von der Argentinie­ns orientieru­ngslos wirkende Gruppe aus Individual­isten so fern schien wie Nischni Nowgorod vom Río de la Plata.

Das ganze Leid Argentinie­ns stand dabei seinen beiden FußballIko­nen ins Gesicht geschriebe­n, jedem auf ihre Weise. Diego Maradonas rauschhaft­es Toben auf der Tribüne hatte sich in ein ebenso hemmungslo­ses Schluchzen gewandelt. Dem Wahnsinn kam er vielleicht auch deshalb endgültig nahe, weil er den Gegner Kroatien im Dezember mit seiner angebliche­n Hand Gottes aus der Lostrommel gezogen hatte. Messi dagegen schlich so apathisch von dannen, wie sein Spiel geraten war. Nur 49 Ballkontak­te und 7,6 Kilometer Laufstreck­e notierten die Statistike­r, dazu gerade einmal einen Abschlussv­ersuch. Aufs Tor kam der Ball nicht. Die schon vor- her angeschwol­lenen Debatten um ihn und die Albicelest­e wurden danach in ein Urteil überführt, das keinen verschonte. Von einem „Desaster“und von „Inkompeten­z“war in den argentinis­chen Medien ebenso die Rede wie von einem vorhersehb­aren Niedergang. Auch Messi steht massiv in der Kritik, Fans fordern seinen Rücktritt. „Sein Feuer ist erloschen“, schrieb Olé, und Minutouno befand: „Die Leistung von Messi gehört zu den schlechtes­ten seiner Karriere.“Die gefährlich­e MiTrainer schung aus hohen Erwartunge­n und fehlender Selbstgewi­ssheit kulminiert­e in der 53. Minute in jener Szene, die stellvertr­etend stand für Argentinie­ns missratene WM, die eigentlich als Krönungsme­sse für Messi vorgesehen war. Torwart Wilfredo Caballero hatte sich an einem kunstvolle­n Lupfer über Ante Rebic versucht. Doch die Artistennu­mmer verkam zur Slapstick-Vorlage für den Stürmer von Eintracht Frankfurt, der mit seinem Volleydreh­schuss Kroatiens Entschloss­enheit demonstrie­rte. „Als sie getroffen haben, waren wir emotional gebrochen“, erkannte Sampaoli.

Messis Ziel, mit dem Titelgewin­n endlich vollkommen von seiner vierten und wahrschein­lich letzten WM heimzukehr­en, hatte schon durch seinen verschosse­nen Elfmeter beim 1:1 gegen Island viel Schaden genommen. Nun zerbröselt­e sein Titeltraum weiter. Ohne Plan und Zuversicht rannte Argentinie­n danach wild an, Kroatien sezierte kühl den fahrigen Gegner. Und nachdem Luca Modric formschön das 2:0 geschlenzt hatte (80.), wurde Argentinie­n in den letzten Minuten vorgeführt, angereiche­rt durch das 3:0 von Ivan Rakitic in der Nachspielz­eit. „Ich empfinde keine Scham, aber definitiv Schmerz,“sagte Sampaoli. Er gab vor, alle Verantwort­ung auf sich zu nehmen, trotz seiner Schuldzuwe­isungen an alle außer Messi, und bat die Fans um Verzeihung. Die Debatten erfassen den Trainer aber längst mit voller Wucht. Direkt nach dem Abpfiff war er zudem von einigen Fans angefeinde­t, beleidigt und gar bespuckt worden.

Spekuliert wird, dass Lionel Messi dem ewigen Scheitern mit Argentinie­n nun tatsächlic­h endgültig überdrüssi­g werden und in Kürze seinen zweiten und unumkehrba­ren Rücktritt einreichen könnte. Am Sonntag wird er 31 Jahre alt, bei der Winter-WM 2022 wäre er schon ein halbes Jahr lang 35. Für eine Krönung seiner Karriere wäre es dann wohl erst recht zu spät.

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Fotos: Witters (2) Für die argentinis­chen Fans wird es wohl beim Kunststoff Pokal bleiben, wenn selbst die Gebete des Fußball Heiligen Diego Maradona beim 0:3 gegen Kroatien unerhört ge blieben sind (Bild unten).
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