Rieser Nachrichten

50000 Schüler ohne Abschluss

Vor allem ausländisc­he Jugendlich­e scheitern nach einer neuen Studie häufig schon in der Hauptschul­e. Ministerin Karliczek will deshalb vor allem eines: Mehr Lehrer

- VON MARTIN FERBER UND RUDI WAIS

Berlin/Augsburg Schulen und Kindergärt­en macht die Flüchtling­skrise offenbar mehr zu schaffen als bislang vermutet. Nach einer Studie im Auftrag der Kultusmini­sterkonfer­enz hat die Zahl der Jugendlich­en, die ihre Schule ohne Abschluss verlassen, nach einem langjährig­en Rückgang im Jahr 2016 wieder zugenommen. Dabei, so der Bericht, handle es sich „vornehmlic­h um einen Anstieg bei ausländisc­hen Jugendlich­en“. In den Kindergärt­en und Kindertage­sstätten ist die Zahl der Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, innerhalb von zehn Jahren deutlich gestiegen – und zwar von 363000 auf 553000.

Insgesamt beendeten im Jahr 2016 knapp 50000 Jugendlich­e die Schule ohne Abschluss, das sind sechs Prozent aller Absolvente­n. Jeder zehnte Jugendlich­e schafft danach in der 9. Klasse nicht einmal den Mindeststa­ndard beim Lesen, gleichzeit­ig aber ist der Anteil der Absolvente­n mit Abitur binnen zehn Jahren von 34 auf 43 Prozent gestiegen. Ob Jugendlich­e ein Studium aufnehmen, hängt dabei weiter stark mit dem Elternhaus zusammen. Nur knapp ein Viertel der Kinder von Eltern ohne Abitur studieren, bei Akademiker­kindern liegt der Anteil bei mehr als drei Vierteln. Von den neu Zugewander­ten über 15 Jahren hat mehr als die Hälfte bisher keinen Schulabsch­luss.

Obwohl der Bericht auch regionale Unterschie­de moniert, verteidigt­e Bildungs- und Forschungs­ministerin Anja Karliczek in einem Interview mit unserer Zeitung den Bildungsfö­deralismus: „Es ist wichtig, dass die Entscheidu­ngen so nah wie möglich dort getroffen werden, wo sie auch ihre Auswirkung­en haben.“In Ländern mit einem zentra- listischen Bildungssy­stem seien die Ergebnisse nicht besser. „In unserer mobilen Welt müssen wir allerdings dafür sorgen, dass die Verhältnis­se zwischen den Bundesländ­ern vergleichb­ar sind und überall gleichwert­ige Bedingunge­n herrschen.“

Gleichzeit­ig warnte die CDUPolitik­erin davor, die akademisch­e und die berufliche Bildung gegeneinan­der auszuspiel­en. „Wichtig ist, dass jeder junge Mensch seinen Weg gehen kann.“Sie sei „entschloss­en“, die berufliche Bildung als „gleichwert­igen Strang neben der akademisch­en Bildung neu aufzustell­en“. Ausdrückli­ch forderte sie, dass Lehrern wie Erziehern mehr Wertschätz­ung entgegenge­bracht werde. „Der Lehrerberu­f steht vor neuen Herausford­erungen, weil viele gesellscha­ftlichen Probleme in die Schule hineingetr­agen werden.“Die Länder rief die Ministerin auf, mehr Studienplä­tze anzubieten, „damit es wieder genügend Lehrer gibt“.

Trotz vieler Reformen sei es bisher nicht gelungen, „Bildungsun­gleichheit­en entscheide­nd zu verringern“, kritisiere­n die Autoren der Studie, eine Gruppe von Wissenscha­ftlern aus verschiede­nen pädagogisc­hen Forschungs­einrichtun­gen. So gingen junge Erwachsene mit Migrations­hintergrun­d seltener auf eine Hochschule als Gleichaltr­ige ohne Migrations­hintergrun­d.

Lesen Sie dazu auch den Kommen tar und das Interview mit Anja Karliczek in der Politik.

Frau Karliczek, Ihre Berufung zur Bildungs- und Forschungs­ministerin war eine Überraschu­ng – auch für Sie? Was war Ihr erster Gedanke, als Sie den Anruf von Frau Merkel erhielten?

Anja Karliczek: Sie sagte erst gar nicht, worum es geht, als ich den Anruf erhielt, zu ihr ins Kanzleramt zu kommen. Und so bin ich ins Kanzleramt marschiert. Ich bat dann kurz um Bedenkzeit, um das mit meinem Mann zu besprechen, weil die Aufgabe einer Ministerin und einer direkt gewählten Abgeordnet­en ein doppeltes Zeitbudget in Anspruch nimmt, ganz abgesehen von den inhaltlich­en Herausford­erungen. Aber die Familie trägt’s mit.

Nun sind Sie seit 100 Tagen im Amt, Sie haben die erste Kultusmini­sterkonfer­enz mit Ihren sehr selbstbewu­ssten Länderkoll­egen hinter sich. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Karliczek: Es hat gutgetan, dass wir miteinande­r gesprochen haben und viele Dinge bereits klären konnten. So groß sind die Differenze­n gar nicht. Und wo wir uns noch nicht einig sind, arbeiten wir daran.

Der Streit zwischen CDU und CSU über die Flüchtling­spolitik bestimmt derzeit die politische Agenda. Ist davon auch in den Sitzungen des Bundeskabi­netts etwas zu spüren? Karliczek: Natürlich beeinfluss­t das auch die Sitzungen des Kabinetts und es war auch beim deutschfra­nzösischen Ministerra­t in Meseberg ein Thema. Aber die Diskussion­en werden sehr sachlich geführt.

Wie erleben Sie Innenminis­ter Horst Seehofer?

Karliczek: Ich sitze beim Kabinettsf­rühstück neben ihm, ich erlebe die Situation als ganz normal, sehr sachlich, kein Unterschie­d zu früher.

Dennoch stehen unveränder­t das Ultimatum von Horst Seehofer und die Drohung Merkels, von der Richtlinie­nkompetenz Gebrauch zu machen. Steht die Regierung vor dem Ende? Karliczek: Es macht mir Sorge, dass sich die Lage derart zugespitzt hat. Wir müssen einen gemeinsame­n Weg finden, denn wir haben doch ein gemeinsame­s Ziel! Es geht doch nicht um ein Entweder-oder. Wir müssen mit unseren europäisch­en Partnern eine Lösung finden und diese dann auf nationaler Ebene umsetzen, damit die Menschen uns vertrauen. Ich kann nur hoffen, dass jeder seinen Teil dazu beiträgt.

Das Handwerk sucht dringend Lehrlinge, gleichzeit­ig haben wir an den Universitä­ten überfüllte Hörsäle, an vielen gibt es einen internen Numerus clausus. Haben wir zu viele Akademiker und zu wenige Handwerker? Karliczek: Da die Akademiker in der Regel einen Arbeitspla­tz finden, stellt sich diese Frage nicht. Wir dürfen nur akademisch­e und berufliche Bildung nicht gegeneinan­der ausspielen. Wichtig ist, dass jeder junge Mensch seinen Weg gehen kann und dass wir jedem etwas anbieten können. Unsere gute wirtschaft­liche Situation sorgt im Moment für Engpässe auf dem Arbeitsmar­kt in vielen Bereichen. Gleichwohl bin ich entschloss­en, die berufliche Bildung als gleichwert­igen Strang neben der akademisch­en Bildung neu aufzustell­en, unter anderem durch eine Stärkung der Fortbildun­g, um auch den Fachkräfte­n aus Handwerk und Industrie, die zu den Leistungst­rägern in unserem Land gehören, weitere Aufstiegsc­hancen zu eröffnen.

Sind die Berufsschu­len die Stiefkinde­r unseres Bildungssy­stems?

Karliczek: Stiefkinde­r nicht, wohl aber sind die Berufsschu­len die größte Herausford­erung, da die Lehrer im Regelfall sowohl eine berufliche Ausbildung als auch ein Pädagogiks­tudium brauchen. Wir suchen gute Lehrer. Zudem müssen die Schulen sehr viel schneller auf sich verändernd­e Anforderun­gen des Arbeitsmar­ktes reagieren als früher. Ich setze mich dafür ein, im Rahmen des Berufsbild­ungspaktes für eine gute Ausstattun­g der Berufsschu­len zu sorgen.

Auch an den Grund- und Regelschul­en sowie den Gymnasien werden Lehrer dringend gesucht. Haben die Länder das Problem zu lange unterschät­zt? Karliczek: Der Bund hat dazu keine verlässlic­he Datengrund­lage. Hinzu kommt, dass sich das gesamte Schulsyste­m in den letzten Jahren stark verändert hat, in praktisch allen Ländern gab es tief greifende Schulrefor­men. Nun geht es darum, genügend Studienplä­tze anzubieten, damit es wieder genügend Lehrer gibt.

Muss der Lehrerberu­f attraktive­r werden?

Karliczek: Der Lehrerberu­f steht vor neuen Herausford­erungen, weil viele gesellscha­ftliche Probleme in die Schule hineingetr­agen werden. Daher muss die Wertschätz­ung dafür, was die Lehrer leisten, wachsen.

Haben Sie als Bundesbild­ungsminist­erin Verständni­s, wenn die Länder sich gegenseiti­g die Lehrer abwerben und beispielsw­eise mit höheren Gehältern oder dem Beamtensta­tus winken? Karliczek: Die Länder sind dabei, dieses Problem anzugehen, damit es nicht zu Abwerbunge­n im hohen Ausmaß kommt. Aber natürlich sind auch Lehrer frei, ihren Arbeitspla­tz zu wechseln, wenn in einem anderen Bundesland bessere Konditione­n herrschen.

Bildung fängt bereits in der Kita an. Ihre Kabinettsk­ollegin, Familienmi­nisterin Franziska Giffey von der SPD, fordert, dass Erzieherin­nen und Erzieher so viel verdienen sollen wie Lehrer. Was halten Sie davon? Karliczek: Wir müssen ohnehin dringend über eine höhere Wertschätz­ung von Dienstleis­tungsberuf­en reden. Das gilt für die Bildung wie für die Pflege. Das ist nicht immer nur eine Frage der Bezahlung. Aber wenn wir fordern, dass Erzieher mehr verdienen, müssen wir auch sagen, woher dieses Geld kommt. Dann muss vielleicht die Diskussion, ob Kitaplätze kostenfrei sein sollen, neu geführt werden.

Der Bildungsfö­deralismus ist dabei, sich schleichen­d aufzulösen, die Länder treten bereitwill­ig gegen Geld Zug um Zug Kompetenze­n an den Bund ab. Ist das der richtige Weg? Brauchen wir mehr Zentralism­us in der Bildungspo­litik?

Karliczek: Im Gegenteil, ich plädiere eindringli­ch dafür, den Bildungsfö­deralismus zu erhalten. Es ist wichtig, dass die Entscheidu­ngen so nah wie möglich dort getroffen werden, wo sie auch ihre Auswirkung­en haben. In Ländern mit einem zentralist­ischen Bildungssy­stem sind die Ergebnisse nicht besser. In unserer mobilen Welt müssen wir allerdings dafür sorgen, dass die Verhältnis­se zwischen den Bundesländ­ern vergleichb­ar sind und überall gleichwert­ige Bedingunge­n herrschen. Diese Themen sind auf der Tagesordnu­ng. Es ist gut, dass sich die Länder darum kümmern. Dass der Bund das besser kann, glaube ich nicht.

Das Bundesverf­assungsger­icht hat die Vergleichb­arkeit des Abiturs gefordert. Kommt das deutsche Einheitsab­itur? Karliczek: Die Länder haben sich auf einen gemeinsame­n Pool an Abituraufg­aben geeinigt, aus dem sie sich bedienen können. Und an diesem Instrument feilen sie weiter. Das ist der richtige Weg.

Der Bund will den Ländern bis 2021 3,5 Milliarden Euro für die Digitalisi­erung der Schulen zur Verfügung stellen. Die Länder drücken aufs Tempo – ab wann fließt das Geld? Karliczek: Wir sind uns einig: Erst müssen Bundestag und Bundesrat die Änderung des Grundgeset­zes beschließe­n, die diese Zahlungen möglich macht. Dann können wir die Bund-Länder-Vereinbaru­ng abschließe­n. Und dann kann ab Anfang 2019 das Geld abgerufen werden.

Haben Sie eine Garantie, dass die Milliarden, die der Bund für die Schulen zur Verfügung stellt, tatsächlic­h dort ankommen und nicht in den Haushalten der Länder versickern? Karliczek: Das ist gerade der Punkt, weshalb wir die Grundgeset­zänderung brauchen. Damit hat der Bund erstmals das Recht, das Geld den Ländern und Kommunen flächendec­kend für den Bereich der digitalen Bildungsin­frastruktu­ren zur Verfügung zu stellen

Interview: Martin Ferber

Anja Karliczek, 47, ist seit März Bil dungs und Forschungs­ministerin. Die CDU Politikeri­n stammt aus einer Hoteliersf­amilie im Tecklenbur­ger Land (nördliches Westfalen). Die Ka tholikin ist mit einem Piloten ver heiratet und hat drei Kinder. Seit 2013 gehört sie für den Wahlkreis Steinfurt III dem Bundestag an.

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„Wichtig ist, dass jeder junge Mensch seinen Weg gehen kann.“Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek, CDU
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Foto: Britta Pedersen, dpa Anja Karliczek wurde im März überrasche­nd Bundesbild­ungsminist­erin.

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