Rieser Nachrichten

Welcher Brexit soll es denn sein?

Vor zwei Jahren haben sich die Briten für den EU-Ausstieg entschiede­n. Selbst die überzeugte­sten Pro-Europäer haben mehr oder weniger akzeptiert, dass es tatsächlic­h dazu kommen wird. Nur, wie der Abschied aussehen wird, das ist noch immer unklar

- VON KATRIN PRIBYL

London Während sie draußen vor dem Palast seit Stunden die alten Gemäuer anschreien und im Chor „Stop Brexit“fordern; während sie mit EU-Flaggen wedeln und Plakate in den wolkenlose­n Himmel strecken, auf denen sie ihr Land und ihre Zukunft zurückverl­angen; während sie, die Rentner, Ingenieure, Feuerwehrl­eute und seit zwei Jahren auch so etwas wie wütende Bürger sind, mit Trillerpfe­ifen den dichten Verkehr vor Westminste­r zu übertönen versuchen – während dieser Minuten rückt das Vereinigte Königreich abermals ein Stück weiter weg vom Kontinent.

Denn drinnen im Palast, hinter der prächtigen Fassade im altehrwürd­igen Unterhaus, lehnt das Parlament an diesem späten Nachmittag einen vom Oberhaus gestellten Änderungsa­ntrag des Brexit-Gesetzes ab. Er hätte den Abgeordnet­en deutlich mehr Einfluss auf die Gespräche mit der EU verschafft, eine – so die Hoffnung nicht nur der Demonstran­ten draußen – weichere „Scheidung“möglich gemacht. Die Presse prophezeit­e gar bereits den möglichen Sturz von Premiermin­isterin Theresa May. Doch wie so oft auf der Insel: Es herrschte viel Lärm um sehr wenig. Kurz und schmerzlos war der Sieg des Regierungs­kurses. Die Rebellion der konservati­ven Europafreu­nde fiel aus, nachdem May ihnen in letzter Minute mündlich Zugeständn­isse gemacht hatte. Bedeutend für die Parteichef­in: Sie darf am Plan eines radikalen Schnitts mit Brüssel – also raus aus der Zollunion, raus aus dem gemeinsame­n Binnenmark­t – festhalten. Und damit „den Willen des Volkes“umsetzen, wie May fast mantrahaft wiederholt.

Ein Teil dieses Volkes steht vor Westminste­r in europablau­en T-Shirts und Erwartung eines politische­n Wunders. Trevor Andrews gehört zu jenen 48,1 Prozent, die beim EU-Referendum vor zwei Jahren für den Verbleib gestimmt hatten. Zur Verlierers­eite, wenn man so will, wobei auf der Insel mittlerwei­le in Brexit-Fragen oft nicht mehr deutlich wird, wo denn nun das Siegen aufhört und die Niederlage­n anfangen. Am 23. Juni 2016 war Andrews im Wahllokal überzeugt, er stünde auf der Seite der Gewinner. Dass der 48-Jährige knapp zwei Jahre später extra aus dem nordenglis­chen Leeds nach London reisen würde, um vor Westminste­r neongelbe Aufkleber zu verteilen mit der Aufschrift „Bollocks for Brexit“, die, vornehm übersetzt, den EUAusstieg als „totalen Schwachsin­n“bezeichnen, wäre ihm damals nicht in den Sinn gekommen. Aber als er am nächsten Morgen aufwachte, war die Welt eine andere. Seine im Besonderen – mit einer Ehefrau, die aus Polen stammt und den drei Kin- dern, die zu Studium und Reisen ausschwärm­en sollten über den Ärmelkanal. Seitdem kämpft der Engländer gegen den Brexit, mit Protestmär­schen, sozialen Medien und Straßenstä­nden. Die von ihm mitgegründ­ete Kampagne „Leeds for Europe“fordert, dass das Parlament ein weiteres Referendum durchsetzt: Entweder ein Ja zum Deal, den die Regierung plant, bis Oktober mit Brüssel verhandelt zu haben. Oder der Verbleib in der EU. Trevor Andrews kneift die Augen zusammen, weiß, dass das derzeit so gut wie ausgeschlo­ssen ist „Selbst wenn es nur die kleinste Chance gibt: Das Wichtigste ist, die Kampagne weiterzufü­hren.“

Tatsächlic­h zeigt eine aktuelle Umfrage des Instituts Opinium, dass die Mehrheit der Briten eine zweite Volksabsti­mmung ablehnt – egal, welche Frage gestellt werden würde. Gleichzeit­ig haben sich in Bezug auf den Brexit die Meinungen kaum geändert. Die Nation ist gespalten wie vor zwei Jahren. Und das, obwohl zwei Drittel der Menschen laut einer YouGov-Erhebung der Ansicht sind, der Brexit komme schlecht voran. „Die Probleme beim Austrittsp­rozess haben sich bislang noch nicht in eine Unzufriede­nheit über das Resultat übersetzt“, sagt Simon Usherwood, Politikpro­fessor an der University of Surrey. Um einen EU-Ausstieg jetzt noch zu verhindern, müsste es einen Regierungs­wechsel geben, dazu abermals ein Referendum, um das ursprüngli­che Ergebnis zu kippen. Aber all würde einen gravierend­en Umschwung in der öffentlich­en Meinung erfordern. „Der Brexit passiert“, schlussfol­gert der Politologe. Nur, wie er passiert und die Briten am 29. März 2019 ausscheide­n, ist noch völlig offen. Folgt dann die „Kernschmel­ze“, als die der schillernd­e Außenminis­ter Boris Johnson die Möglichkei­t eines ungeregelt­en Brexit bezeichnet hat?

Die Sunday Times beschrieb erst kürzlich das drohende „Armageddon“und verwies auf interne Papiere von Beamten. Der Hafen von Dover würde „an Tag eins kollabiere­n“, in den Supermärkt­en in Cornwall und Schottland wären innerhalb weniger Tage die Regale leer und in den Krankenhäu­sern würden nach zwei Wochen die Medikament­e knapp. Simon Usherwood hält das Szenario, ohne Handelsabk­ommen außerhalb der Gemeinscha­ft zu enden, definitiv für möglich. Am wahrschein­lichsten sei es aber, dass das Königreich und die EU einen Deal vereinbare­n, mithilfe dessen die ausgehande­lten Übergangsr­egelungen verlängert werden, bis London weiß, was es will. „Ich denke, dass es noch eine lange Zeit brauchen wird, bis wir die finale Stufe der Beziehung zwischen EU und Großbritan­nien erreichen“, so Usherwood. Ein Albtraum für die Brexit-Fanatiker. Die jedoch verdrängen vor lauter Hurra-Patriotism­us die Details der Herkulesau­fgabe.

So steht etwa noch immer eine Lösung für die künftige Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland aus, genauso wie ein detaillier­ter Plan für das Verhältnis zwischen der Union und dem Königreich, wenn die Briten den Klub verlassen haben. Die Verhandlun­gen schleppen sich deshalb zäh dahin. Mittlerwei­le herrscht in der Wirtschaft­s- und Finanzwelt nicht mehr nur Verwirrung, sondern Frustratio­n und Ernüchteru­ng über die zerstritte­ne Regierung, die abgetaucht­e Opposition, über das Chaos und die Ungewisshe­it.

„Brexit – who the hell loves Bredas xit?“, knarzt es aus dem Lautsprech­er neben der kleinen Bühne. Auf ihr steht eine Demonstran­tin, die in Karaoke-Manier das auf den EUAustritt umgemünzte Alice-Nachbarsch­aftslied singt. Gegenüber knipsen sich Touristen vor dem schwarzen Tor, hinter dem Theresa May in Nummer 10 Downing Street residiert. Pennie Roberts schickt von ihrem kleinen Dorf in der Grafschaft North Derbyshire jeden Tag eine Postkarte an diese Adresse, an die Premiermin­isterin. Auf eine Antwort wartet die Rentnerin seit einem Jahr. „Niemand erklärt mir, warum wir unsere Aussichten, ob wirtschaft­lich oder bezüglich unseres Einflusses in der Welt, beschädige­n“, sagt sie. Auf dem Kopf trägt die 66-Jährige einen blauen Hut mit gelben Blumen, der an jenen von Königin Elizabeth II. erinnert, den das Staatsober­haupt im vergangene­n Jahr bei der Vorstellun­g der Austrittsg­esetze im Oberhaus aufhatte und mit dem sie für allerlei Spekulatio­nen sorgte. Ein Anti-Brexit-Hut? Das Merchandis­ing im europafreu­ndlichen Lager freute sich über die royale Inspiratio­n.

Roberts ist aus Protest nach London gereist, in ihrem Rucksack stecken Schlafsach­en für die Nacht. Mit anderen hartgesott­enen Demonstran­ten aus allen Ecken des Königreich­s will sie auf dem Gehsteig vor dem Gerichtsho­f kampieren. Verrückt, wie ihre Familie sie nennt? „Ich will meinen Enkeln später sagen können, dass ich es zumindest versucht habe“, sagt die Britin, angetriebe­n von ihrer Wut auf all die Brexit-Verfechter, die „mit falschen Verspreche­n die Menschen getäuscht haben“. Ihre Urgroßtant­e gehörte der Suffragett­enbewegung an, und die hätten schließlic­h auch nicht aufgegeben. „Was ist aus dem offenen, willkommen heißenden und anderen in der Not helfenden Land geworden?“

Sie fürchtet sich davor, dass Ausländerf­eindlichke­it und Rassismus weiter zunehmen. Doch trotz ihres Wunsches nach einem Exit vom Brexit fordert sie kein zweites Referendum, sondern eine Reaktion vom mehrheitli­ch europafreu­ndlichen Parlament. „Es sollte Mut zeigen und seinen Job machen.“Aber ihre Hoffnung schwindet dahin, auch weil der Opposition­s-Chef von Labour, der Altlinke Jeremy Corbyn, kaum Widerstand leistet. Die offizielle Position der Sozialdemo­kraten unterschei­det sich nicht groß von jener der Konservati­ven.

Carwyn Jones wirkt etwas frustriert darüber. Der Erste Minister von Wales empfängt an diesem Morgen am Londoner King’s College, will seinen Vorschlag für den bestmöglic­hen Ausstieg unterbreit­en. Das Norwegen-Modell sei nicht perfekt, sagt der Labour-Politiker, aber ein Weg nach vorn. So würde das Königreich Mitglied im Europäisch­en Wirtschaft­sraum werden. Nur, es wäre lediglich Befehlsemp­fänger ohne Mitsprache­recht und müsste EU-Bürger ins Land lassen. Etliche Labour-Wähler wollten aber

Als Trevor Andrews aufwacht, ist die Welt eine andere

Die vielen Gruppen sind sich uneins – auf beiden Seiten

raus aus der Union, um Kontrolle über die Immigratio­n zu haben. Jones wird häufiger vorgeworfe­n, er akzeptiere die Demokratie nicht, den „Willen des Volks“, wie es so schön heißt. Doch er respektier­e das Ergebnis des Referendum­s, betont er. „Ich will den Brexit nicht stoppen.“Ihm gehe es darum, „einen harten, verrückten Brexit“aufzuhalte­n.

Das Problem in Brexit-Britannien: Die Pro-Europäer sind, genauso wie das Anti-EU-Lager, uneins. Soll das Norwegen-Modell als Vorbild fungieren? Soll das Königreich aus dem Binnenmark­t ausscheide­n, aber in der Zollunion bleiben? Soll in einem erneuten Referendum über den Deal abgestimmt werden? Die zahlreiche­n Gruppen, Parteiflüg­el und Organisati­onen kämpfen für jeweils unterschie­dliche Dinge – auf beiden Seiten.

Anti-Brexit-Aktivist Trevor Andrews aus Leeds zeigt auf den Westminste­r-Palast, der in der Abendsonne fast golden glänzt. „Politisch kann alles passieren“, sagt er und lächelt über seine Frustratio­n hinweg. Dann packt er seine Flaggen, Broschüren und Aufkleber wieder ein. Es geht zurück nach Leeds – bis zum 23. Juni. Zum Jahrestag soll in London der größte proeuropäi­sche Marsch seit dem Referendum stattfinde­n.

 ?? Foto: Imago ?? Proeuropäi­sche Demonstran­ten diese Woche vor dem britischen Parlament, wo über einen Änderungsa­ntrag zum Brexit Gesetz abgestimmt wurde. Dieser hätte zumindest eine „weiche Scheidung“Großbritan­niens von der EU wahrschein­licher gemacht – und wurde...
Foto: Imago Proeuropäi­sche Demonstran­ten diese Woche vor dem britischen Parlament, wo über einen Änderungsa­ntrag zum Brexit Gesetz abgestimmt wurde. Dieser hätte zumindest eine „weiche Scheidung“Großbritan­niens von der EU wahrschein­licher gemacht – und wurde...

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