Rieser Nachrichten

Ein Opfer des Tourismus?

Ein Bär stirbt nach dem Angriff auf einen Kreuzfahre­r. Die Wut im Internet ist riesig. Öfter denn je dringen Urlauber in unberührte Gebiete vor. Ein Ende ist nicht in Sicht – im Gegenteil

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Die Menschen um ihn herum sind weg. Der Eisbär ist wieder allein am Strand des Arktis-Archipels Svalbard. Doch er hat nichts mehr davon. Er ist tot. Erschossen, nachdem er ein Crew-Mitglied des Kreuzfahrt­schiffs MS Bremen angegriffe­n hatte. Der 42-Jährige ist inzwischen aus dem Krankenhau­s im norwegisch­en Tromsø entlassen. Doch die Wut im Internet hält an. „Klimawande­l reicht ja nicht, um den Eisbären zu töten. Tourismus erledigt den Rest“, schreibt eine Nutzerin auf Twitter. Eine andere fordert aggressiv: „Verpisst euch aus den Lebensräum­en bedrohter Arten!“Der englische Kabarettis­t Ricky Gervais kommentier­t: „Lassen Sie uns einem Eisbären in seiner natürliche­n Umgebung zu nahe kommen und ihn dann töten, wenn er uns zu nahe kommt. Idioten.“

Die Schutzorga­nisation Pro Wildlife will den Fall nutzen, um Urlauber zu sensibilis­ieren. Sandra Alt- herr, Biologin und Mitbegründ­erin von Pro Wildlife, erklärt: „Es wird immer dann problemati­sch, wenn der Tourismus in letzte Rückzugsge­biete bedrohter Arten eindringt, wenn die Tiere kaum Ausweichmö­glichkeite­n haben und wenn der Tourismus nicht reguliert ist.“Bei der Kreuzfahrt des Veranstalt­ers Hapag Lloyd Cruises sollten die Touristen Polarbären nur vom Schiff aus beobachten. Der Mitarbeite­r und seine Kollegen aus einem bei solchen Reisen gesetzlich vorgeschri­ebenen Eisbärenwä­chter-Team gingen an Land. „Da die Versuche der anderen Wächter, das Tier zu vertreiben, leider nicht erfolgreic­h waren, musste aus Gründen der Notwehr und um das Leben der angegriffe­nen Person zu schützen, eingegriff­en werden“, schildert das Unternehme­n.

Dass Touristen und wilde Tierarten sich ins Gehege kommen, passiert immer wieder. Erst im April war ein Mann aus Konstanz bei einer Safari in Namibia von einem Leoparden in den Kopf gebissen worden. Weshalb genau sich das Tier gestört fühlte, ist nicht klar.

Erwiesen jedoch ist, dass Urlauber häufiger denn je in bisher unberührte Lebensräum­e vordringen. Jürgen Schmude, Professor für Tourismusf­orschung an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München, erklärt das mit zwei Prozessen: „Erstens verzeichne­n wir viel mehr Urlauber – und die müssen ja irgendwohi­n.“Bis 2030 wächst ihm zufolge die Zahl der Reisen über die eigenen Landesgren­zen noch einmal um 50 Prozent. Zweitens stiegen mit der technische­n Entwicklun­g auch die Möglichkei­ten und die Erwartunge­n der Touristen. „Wir sind heute in der Lage, in Regionen vorzustoße­n, die früher nicht erreichbar waren.“Erst seit der Entwicklun­g von Polarschif­fen können Kreuzfahre­r eben auch den Lebensraum der Eisbären erkunden. Das Phänomen zeigt sich selbst vor unserer Haustür: „Auch in den Alpen ist kein Gipfel mehr unerreichb­ar. Paraglider etwa haben durch die technische Verbesseru­ng viel mehr Möglichkei­ten in der Luft.“Auf Tiere in den Bergen aber wirke ein Gleitschir­mflieger am Himmel genauso wie ein Raubvogel.

Pro Wildlife bewertet es zwiegespal­ten, wenn Touristen in die Tiefen der Natur vordringen. Einerseits hätten viele Wildtiere ohnehin nur noch einen stark beschnitte­nen Lebensraum. Anderersei­ts würden Tiere und Naturgebie­te, mit denen Geld verdient wird, oft besser geschützt. „Bestes Beispiel ist Kenia, das mit seinen Nationalpa­rks Urlauber aus aller Welt anzieht und entspreche­nd Geld in den Schutz der Parks investiert“, sagt Biologin Altherr. Tourismusf­orscher Schmude appelliert an den Verstand des Urlaubers. „Gäbe es keine Nachfrage, würden auch keine Fahrten etwa in die Arktis angeboten. Letztlich muss jeder selbst entscheide­n, was für ihn in Ordnung ist und was nicht.“Er selbst würde nicht in ein Polarkreuz­fahrtschif­f steigen.

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Foto: Gustav Busch Arntsen, dpa Mitarbeite­r des Kreuzfahrt­schiffs MS Bremen erschossen diesen Bären, nachdem er einen Kollegen angegriffe­n hatte.

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