Vicky – das heißt Siegerin!
Als bei Nadine Gentner aus Huisheim die Fruchtblase in der 19. Schwangerschaftswoche platzt, geht es für ihre ungeborene Tochter um Tod oder Leben. Doch die kleine Vicky ist eine echte Kämpfernatur. Eine Hoffnungsgeschichte
Huisheim „Komm bitte gleich nach Hause, Schatz, irgendetwas stimmt nicht.“Als Robert Gentner (35) diesen Anruf seiner Frau Nadine (32) bekommt, ist er gerade in fröhlicher Runde unterwegs. Im Huisheimer Feuerwehrhaus gibt es eine lockere Veranstaltung. Der Unterton in ihrer Stimme aber alarmiert ihn sofort. Nadine ist in der 19. Schwangerschaftswoche – von regulär 40 Wochen. Sieben Jahre lang haben sie auf ein Baby gewartet. Und nun dieser Satz, in dem so viel Beunruhigendes mitschwingt. Es ist der 6. Oktober 2017 gegen 19 Uhr. Dieses Telefonat markiert den Moment, an dem sich das Leben der Gentners von einer Minute zur anderen völlig verändert.
Nadine weiß erst seit Juli, dass es mit dem heiß ersehnten Wunschkind endlich geklappt hat. Überglücklich sind sie und ihr Mann über die freudige Nachricht. Doch bleibt ihnen nur wenig Zeit, die Schwangerschaft zu genießen. Nur acht Wochen lang können sie sich unbeschwert diesem Glücksgefühl hingeben. Dann kommt jener 6. Oktober und mit ihm Ängste, Sorgen und Bangen.
Robert Gentner fährt sofort nach Hause, packt seine Frau ins Auto und sucht medizinischen Beistand. Doch der Arzt, den sie konsultieren, macht ihnen keinerlei Hoffnung: „Tut mir leid, das ist ein Blasensprung, ein Zeichen für die beginnende Geburt. Es sieht schlecht aus.“Da Frühgeborene gemeinhin bis zur 22. Schwangerschaftswoche als nicht lebensfähig gelten, werden sie meist lediglich würdevoll in ihrem Sterben betreut.
„Wir waren beide völlig schockiert. Fassungslos“, erinnern sich die Gentners. „Wir haben uns geweigert, das hinzunehmen.“Also fahren sie knapp 50 Kilometer nach Augsburg ins Josefinum, eine Fachklinik für Kinder, Jugendliche und Frauen. Dort parken sie und laufen zur Notaufnahme. Heute sind sie schlauer: „Als man mich am Empfang gesehen hat, hieß es nur: Um Gottes Willen, keinen Schritt weiter“, erzählt Nadine Gentner. Ein Liegendtransport wäre das einzig Richtige gewesen.
Die dramatische Erst-Diagnose wird im Josefinum bestätigt. Ultraschalluntersuchungen zeigen zudem, dass das Ungeborene fast trocken liegt. Nur noch wenig Fruchtwasser umgibt das Baby. Keiner weiß, ob es zur Versorgung ausreicht. Keiner weiß, ob das kleine Mädchen Schaden nimmt. Doch die behandelnde Ärztin macht den Eltern Mut. Nadine muss ab sofort liegen. Die drohende Geburt kommt nicht weiter in die Gänge. Mit Antibiotika werden Infektionen vermieden. Jeder Tag mehr, an dem das Baby im Mutterleib bleibt, ist ein Gewinn. Denn Frühchen nach der 24. Schwangerschaftswoche haben laut Statistik Überlebenschancen von bis zu 80 Prozent.
Mit dieser magischen Zahl vor Augen kämpft sich die kleine Familie von einem Tag zum nächsten durch. Angehörige und Freunde unterstützen sie, geben seelischen Halt. Am 13. November ist die 24. Schwangerschaftswoche geschafft. Doch dann setzen am 16. November die Wehen ein. Nadine hat Krämpfe, verliert Blut und dann explodieren die Entzündungswerte. Das Baby steckt schon tief im Geburtskanal, soll aber per Kaiserschnitt geholt werden, um Komplikationen zu vermeiden. Jetzt ist höchste Eile geboten.
Robert Gentner schafft es gerade rechtzeitig von Huisheim nach Augsburg, um Nadine noch einmal zu drücken, bevor sie ihre Narkose bekommt. Schwestern, Ärzte, Hebammen, Kinderärzte stehen parat. „Es war ein Kommen und Gehen“, erinnert sich Robert Gentner. Um 5.25 Uhr kommt Vicky zur Welt. Vicky! Als Kurzform für Viktoria – die Siegerin. Selten war ein Name wohl mit so viel Symbolgehalt gewählt. „Wir wussten, dass sie eine Kämpfernatur ist“, sagen ihre Eltern.
Robert Gentner kann einen kurzen Blick auf den 28-ZentimeterWinzling mit 490 Gramm und 20 Zentimeter Kopfumfang werfen, ehe die Kleine in den Inkubator auf der Intensivstation verlegt wird. Von selbst hätte Vicky keinen einzigen Atemzug getan. Jeden Tag besuchen die Gentners Vicky dort. Sie sind glücklich, sich ihre Tochter, die unter Kabeln, Schläuchen, Pflastern und Verbänden fast verschwindet, auf die Brust legen und ihre Nähe und Wärme geben zu können.
Am 27. November darf Nadine nach über sieben Wochen das Krankenhaus verlassen – einem Klinikkoller nahe. Von da an fahren sie und ihr Mann täglich ins Josefinum. „Wir haben über 27000 Kilometer zurückgelegt.“Jeder einzelne von ihnen war es ihnen wert.
Die Anfangsmonate sind ein ständiges Wechselbad der Gefühle, denn bei Extrem-Frühchen ist immer mit Komplikationen zu rechnen. Die erste schlechte Nachricht kommt nach sechs Lebenstagen: Vicky hat Blut im Urin. Eine beidseitige Nierenthrombose ist die Diagnose. Das Gerinnsel wird medikamentös aufgelöst, was aber eine Hirnblutung zur Folge hätte haben können. Vicky hat Glück.
Der zweite Rückschlag sind eine Lungenentzündung und ein Ductus arteriosus (ein offenes Gefäß zwischen Herz und Lunge, das sich eigentlich hätte schließen müssen). Vicky hat Glück – die Behandlung schlägt an.
Der dritte Rückschlag ist eine Verwachsung der Gefäße hinter dem rechten Auge mit drohender Netznoch hautablösung. Vicky muss in die Haunersche Kinderklinik nach München verlegt werden. Trotz einiger Probleme hat sie auch diesmal Glück. Wie viel sie allerdings auf diesem Auge sieht, wird man erst später feststellen. Der vierte Rückschlag ist ein doppelter Leistenbruch. Er wird am 6. April operiert. Vicky hat Glück.
Am 11. April – nach 22 Wochen – bringen die Gentners ihre Tochter nach Hause. Seitdem leben sie Familie. Noch immer nicht völlig unbeschwert, denn die Kleine braucht Medikamente, Thrombosespritzen, Sauerstoff, Physiotherapie, Lungenkontrollen, neurologische Untersuchungen ... . Aber Nadine und Robert sind glücklich und unendlich dankbar. Dankbar gegenüber den Ärzten und Schwestern am Josefinum, das für sie beinahe zur zweiten Heimat wurde, dankbar gegenüber Eltern und Freunden, dankbar gegenüber dem Schicksal, das ihnen eine solche kleine Kämpferin geschenkt hat.
Ihre Vicky eben!