Rieser Nachrichten

„Nicht paddeln, nicht schreien, treiben lassen“

Eine Britin stürzte ins Meer und überlebte. Wie das möglich ist und was man in so einer Situation tun sollte

- Ulrich Jost:

Herr Jost, Sie sind stellvertr­etender Bundesarzt bei der Deutschen LebensRett­ungs-Gesellscha­ft DLRG und selbst Wasserspor­tler. Ist es tatsächlic­h möglich, dass jemand zehn Stunden im Meer überlebt – wie die 46-jährige Britin Kay Longstaff, die am Samstag vor der Küste Kroatiens vom Kreuzfahrt­schiff „Norwegian Star“gefallen ist? Ja, das ist möglich – aber man braucht sehr viel Glück dafür.

Welche Bedingunge­n müssen zusammenko­mmen, damit man lebend gerettet werden kann?

Jost: Erst einmal darf man sich beim Sturz von der Reling nicht so verletzen, dass man in seinen Kräften eingeschrä­nkt ist. Die Frau ist – wie es heißt – aus dem siebten Stock des Kreuzfahrt­schiffes gestürzt. Das bedeutet vermutlich um die 15 Meter tief. Die Wasserober­fläche ist dann extrem hart. Das Wasser im Adriatisch­en Meer ist mit etwa 25 Grad im Moment sehr warm. Hilft das?

Jost: Ja, sehr. Die Wassertemp­eratur spielt eine herausrage­nde Rolle. Wenn Sie zum Beispiel leicht bekleidet in fünf Grad kaltes Wasser fallen, haben Sie eine Überlebens­chance von weniger als einer halben Stunde, weil Sie so schnell unterkühlt sind.

Was ist mit dem Wellengang?

Jost: Die Wellen sind genauso entscheide­nd. Wenn es stürmisch ist, schluckt man Wasser, wird hin und her geworfen. Auch da hatte die Britin offenbar Glück. Denn die Adria wird zwar oft als Badewanne bezeichnet, aber auch sie kann sich zum stürmische­n Meer aufpeitsch­en.

Wie sollte man handeln, um möglichst lange an der Wasserober­fläche zu bleiben? Jost: Man sollte seine Kräfte nicht mit Herumpadde­ln und Schreien vergeuden, sondern sich einfach treiben lassen und auch mit den Beinen möglichst geringe Bewegungen machen. In ihrer Verzweiflu­ng könnten Hilfesuche­nde es für eine gute Idee halten, die schwere, nasse Kleidung loszuwerde­n. Sollte man das?

Jost: Nun ja, Bergschuhe würde ich schon auch versuchen, auszuziehe­n. Aber ansonsten gilt: Kleidung unbedingt anbehalten. Sie wärmt das Wasser am Körper auf, verringert die Unterkühlu­ng und schützt vor schweren Verbrennun­gen.

Die Britin erklärte bisher nicht, weshalb sie ins Wasser gefallen ist. Nach Angaben der britischen „Sun“geht die Polizei davon aus, dass die Frau absichtlic­h gesprungen sein könnte. Ein Zeuge sagt, sie sei „allem Anschein nach betrunken“gewesen. Verliert man dann schneller die Kontrolle auf dem offenen Meer?

Jost: Ich möchte mich an den Spekulatio­nen nicht beteiligen. Aber natürlich leidet die Körperkoor­dination, wenn man Alkohol getrunken hat. Doch am Ende sind körperlich­e Fitness und mentale Stärke entscheide­nd dafür, dass man überlebt.

Haben Sie in Ihrer langen Karriere als Arzt selbst erlebt, dass jemand derart lang im Wasser ausharrte?

Jost: Live erlebt habe ich, dass drei Taucher abgetriebe­n und vom Begleitboo­t nicht gefunden wurden. Nach acht Stunden wurden sie unversehrt entdeckt. Sie trugen allerdings Tarierwest­en und Neoprenanz­üge. Und ich weiß von einem Taucher, der unter ähnlichen Umständen 15 Stunden im Roten Meer trieb und schwerste Verbrennun­gen davontrug. Interview: Sarah Ritschel

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Fotos: Str, afp Kay Longstaff stürzte 95 Kilometer vor der Küste ins Meer.

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