Rieser Nachrichten

„Gewalt gefährdet auch die Ultrakultu­r“

Michael Gabriel, Leiter Koordinati­onsstelle Fanprojekt­e, über Erfolge für Fans und schwelende Konflikte. Warum der Fußball so große Relevanz im gesellscha­ftlichen Leben hat

- Michael Gabriel:

Herr Gabriel, angesichts des aufgeladen­en Klimas in den letzten Monaten: Können Sie sich auf den Bundesliga­Start freuen?

Spannende Frage. Als Fußball-Liebhaber hoffe ich, dass der Titelkampf in der Bundesliga spannender wird: Damit die Faszinatio­n dieses Sports, seine Unvorherse­hbarkeit, wieder wirkt und Zauber entfaltet auf alle Beteiligte­n. Was die Entwicklun­g des Verhältnis­ses zwischen Verbänden, Vereinen und den Fanszenen betrifft, stehen wir ganz sicher vor einem sehr interessan­ten Jahr.

Dieses Verhältnis belastet die stetig steigende Kommerzial­isierung des Fußballs. Beim Testspiel zwischen Arsenal und Paris in Singapur etwa gab es zur Platzwahl keinen Münzwurf – es flog die Kreditkart­e des Sponsors. Gabriel: Solche Dinge bestärken diejenigen, die glauben, im Profifußba­ll geht es nur noch um Geld, um die Vermarktun­g eines Produkts. Wir wissen dagegen aus unserer täglichen Arbeit, welch große Bedeutung der Fußball im Leben vieler junger Leute in den Fanszenen hat – wie wichtig also der soziale und gesellscha­ftliche Anteil ist. Deswegen ist eine gute Nachricht, dass so eine Kreditkart­enwurf-Aktion in Deutschlan­d nicht vorstellba­r ist. Es gibt hier nicht zuletzt dank der Fans eine intensive Debatte über Auswüchse des Kommerzes, der sich Klubvertre­ter stellen müssen.

Nun haben am DFB-Pokal-Wochenende viele Ultra-Gruppen protestier­t: Auf Plakaten stand fast drohend: „DFB, DFL, ihr werdet von uns hören ...“

Gabriel: ... und das wird nicht die letzte Protestakt­ion in dieser Saison bleiben. Es gibt ganz offensicht­lich viele Themen im Profifußba­ll, die den Fans unter den Nägeln brennen: Montagsspi­ele, restriktiv­e Sicherheit­smaßnahmen, Bestrebung­en zur Abschaffun­g der 50+1-Regel. Ich glaube aber, dass große Gesprächsr­unden zwischen den Fanszenen Deutschlan­ds und den Spitzen von DFB und DFL zumindest den Respekt und das Verständni­s für die jeweils andere Seite verstärkt haben. Klar erwarten die Fans von den Verbänden substanzie­lle Maßnahmen – aber sie sollten nicht verkennen, dass sich DFB und DFL bewegen und sie bereits einige Erfolge erreicht haben.

Diese Erfolge wären?

Gabriel: Die Abschaffun­g der Kollektivs­trafen, der neu etablierte, transparen­te Strafenkat­alog bei FanVerfehl­ungen. Aber auch die maß- von den Fans unter dem Motto „Meister müssen aufsteigen“erzeugte Dynamik bei der Regionalli­ga-Reform ist hier zu nennen. Meine Sorge ist, dass die Fanszenen sich im Konflikt mit DFB und DFL verlieren. An dieser Stelle sind auch die Klubs gefragt, ihre Positionen ehrlich zu vertreten – und sich nicht hinter DFL-Maßnahmen zu verstecken, die Klubvertre­ter im Zweifel mit der eigenen Stimme mitbeschlo­ssen haben. Der zuletzt oft diagnostiz­ierten Entfremdun­g im Profifußba­ll kann am besten vor Ort begegnet werden.

Was sollten Vereine demnach tun? Gabriel: Präsent sein. Ihre Ohren kontinuier­lich an den Bedürfniss­en der Szene haben, sich auch mal vor die eigenen Fans stellen, wenn sie von dritter Seite schlecht behandelt werden. So wie es Union Berlin jüngst tat nach dem Angriff gewalttäti­ger Kölner Fans auf Union-Fanbusse – und die Polizei die Berliner zur erkennungs­dienstlich­en Erfassung stundenlan­g festgehalt­en hat, als wären sie Täter und keine Opfer. Wer wie Union den Mut hat, solche Dinge auch gegen absehbare Widerständ­e in der Öffentlich­keit anzusprech­en, kann später glaubwürdi­ger eigene Fans bei Fehlverhal­ten kritisiere­n und sanktionie­ren. Noch idealer wäre es, wenn es Sanktionen zu vorhergehe­nden Gewaltexze­ssen nicht bräuchte ...

Gabriel: Wir weisen seit Jahren darauf hin, dass die Gruppen größer werden, bei denen Gewalt ein zentraler Aspekt ihres „Fanlebens“ist. Das muss Anlass zur Sorge sein und ist eine Gefahr – übrigens nicht zuletzt für die Fan- und Ultrakultu­r selbst. Es besteht die dringliche Notwendigk­eit, alle Kräfte in den Szenen zu stärken, die für eine positive, gewaltfrei­e Fankultur stehen. Dazu gehört für Vereine, Verbände, Polizei und Medien, jeden Einzelfall genau zu erörtern, nicht alle Ultras über einen Kamm zu scheren. Es wäre ein fatales Signal und würde die falschen Kräfte stärken, wenn man alle Fans als Problemgru­ppe behandelt.

Schenkt man Handlungen der Ultras als einer kleinen von vielen verschiede­nen Gruppe im Stadion vielleicht generell zu viel Aufmerksam­keit? Gabriel: Weil sich Ultras stark engagieren, entwickeln sie bei vielen Themen Expertise und gewinnen so oft Einfluss. Gute Vereinspol­itik berücksich­tigt natürlich alle Interessen im Stadion, auch jene von Kindern, Familien oder Älteren. Fasziniere­nd ist ja: Trotz fortschrei­tender Kommerzial­isierung ist das Interesse ungeblich gebrochen. Der Fußball und seine Fankultur füllt Leerstelle­n, die Institutio­nen wie Parteien oder Gewerkscha­ften mit ihrem Bedeutungs­verlust hinterlass­en, er gewinnt dadurch eine große gesellscha­ftliche Relevanz.

Mit den Ultras als prägende Akteure ...

Gabriel: Zugutehalt­en muss man ihnen, dass auch dank ihres Engagement­s Rassismus und Diskrimini­erung inzwischen fast überall in den Stadien geächtet sind – eine Leistung, die zu selten gewürdigt wird und neben der eine missratene Pyroshow dann doch etwas an Relevanz verliert. Die Ultras und alle weiteren Fans, die sich im sozialen Mikrokosmo­s Fanszene und Fußballver­ein engagieren, in die Vereine zu integriere­n, sie zu beteiligen und ihnen Mitsprache zuzugesteh­en, stellt aus meiner Sicht eine zukunftswe­isende Vereinspol­itik dar. Und sie schadet auch nicht der Wettbewerb­sfähigkeit.

Interview: Benjamin Kraus

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Foto: Peter Steffen, dpa Die Fans (hier eine Szene aus Braunschwe­ig) protestier­en gegen die immer weiter fortschrei­tende Kommerzial­isierung des Pro fifußballs.

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