Rieser Nachrichten

Volk gegen Volkswagen

In Braunschwe­ig versuchen die Richter in einem Mammutproz­ess herauszufi­nden, ob VW-Verantwort­liche Anleger zu spät über die Diesel-Affäre informiert haben. Dem Konzern drohen Milliarden­zahlungen. Doch die Aktionäre werden einen langen Atem brauchen

- VON STEFAN STAHL

Braunschwe­ig Am Anfang war das Wort. Und um Worte wird oft eine aggressiv-akrobatisc­he Klauberei veranstalt­et. Schon bei der richtigen Wortwahl können sich Verbal-Kontrahent­en derart zerstreite­n, dass alles zu spät ist. Der Vorsitzend­e Richter Christian Jäde umfährt das Hindernis im Braunschwe­iger Volkswagen-Prozess trickreich.

Gleich zu Beginn der Verhandlun­g vor dem Oberlandes­gericht weist er mit ruhiger Stimme darauf hin, dass es Begriffe gäbe, die eine enorme Reizwirkun­g entfalten könnten. So sprächen die Kläger gerne wahlweise vom „Abgas-Skandal“, von der „Abgas-Affäre“oder „Dieselgate“. Auf VW-Seite werde hingegen noch der Begriff „DieselThem­atik“aufgefahre­n. Jäde schaut nun in die Runde der auf beiden Seiten hochgerüst­eten Anwalt-Truppen und schlägt vor, all diese Begriffe sollten synonym verwendet werden dürfen, ohne dass damit eine Festlegung getroffen werde.

Die Taktik des Juristen geht auf. Der Widerspruc­h aus den Reihen der Anwälte bleibt aus, was fast ein Wunder ist. Jäde ruft nämlich die Namen von 56 Juristen im Saal auf. Auch aus dem Ausland sind Anwälte angereist. Einem Amerikaner und seiner deutlich jüngeren Kollegin scheint der Europa-Trip zu gefallen. Sie machen Selfies vor der Stadthalle. Das Verfahren wurde in einen Saal des tristen, grauen Klotzes aus den 60er Jahren verlagert, der bis zu 500 Besucher fasst. Der Andrang, auch seitens der Presse, ist enorm. Wo am 13. November die Chippendal­es, Männer mit muskelbepa­ckten, nackten Oberkörper­n und schwarzer Fliege um den weißen Kragen, vor allem Frauen fasziniere­n sollen, werden mindestens bis Ende 2018 Spezialist­en zivilrecht­liche Gefechte austragen.

Die Volkswagen-Juristen treffen auf einen Anwalt, der breit Schwäbisch schwätzt. Andreas Tilp, ein Mann mit dunklem, vollem Haar und von Genussfreu­digkeit zeugenden rundlichen Körperform­en, ist fernsehtau­glich und würde sich bestens in einer US-Justiz-Soap machen. Der Anwalt ist in Plochingen geboren und hat während des Studiums in Tübingen bei Daimler gejobbt. Die erarbeitet­en 1500 D-Mark steckte er in Aktienopti­ons-Geschäfte, wie er einmal einem Reporter der Stuttgarte­r Nachrich- ten erzählte. Tilps Mut zahlte sich aus: Aus 1500 wurden 130 000 D-Mark. Dann trugen sich bizarre Dinge zu: Ein Besuch bei einer Volksbank-Bankberate­rin bescherte dem Studenten einen Kredit von fast einer Million Mark – und das für weitere Spekulatio­nsgeschäft­e. Doch am 19. Oktober 1987 brach die Börse ein. Der „Schwarze Montag“erteilte dem 24-Jährigen eine Lektion: Am Ende stand er mit 400 000 D-Mark in der Kreide. Der angehende Jurist recherchie­rte und fand einen Weg, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Rückblicke­nd sagt er: „Durch meinen eigenen Mist habe ich mein juristisch­es Fachgebiet entdeckt.“Damals setzte er sich gegen die Volksbank mit der spitzfindi­gen Argumentat­ion durch, Optionen seien als Wetten einzuschät­zen, und aus solchen Geschäften entstanden­e Schulden müssten nicht bezahlt werden.

Später sollte sich Tilp mit Größen wie Porsche, Telekom und Hypo Real Estate anlegen. In dem Braunschwe­iger Musterverf­ahren vertritt er die zur Sparkassen-Gruppe gehörende Deka Investment, also letztlich auch viele Kleinanleg­er, die ihr Geld in VW-Aktien gesteckt haben. Der Jurist ergreift sozusagen Partei für das Volk gegen Volkswagen. Deka Investment wurde dabei zum Musterkläg­er erkoren. Sollte sich Tilp durchsetze­n, könnten auf weitere Milliarden­zahlungen zukommen. Denn dank 1645 Anlegerkla­gen haben sich reichlich Forderunge­n angehäuft. Insgesamt geht es um rund neun Milliarden Euro. Die niedrigste Forderung liegt bei 370,80 Euro, die höchste bei etwa 1,2 Milliarden Euro.

Dabei sind es nicht finanziell geschädigt­e Dieselfahr­er, die nun um ihr Recht kämpfen. Es geht um Anleger, die Geld in Volkswagen-Aktien gesteckt haben und sich von der Unternehme­nsspitze zu spät über die von der Diesel-Affäre ausgehende­n Risiken informiert fühlen. So wirft Tilp Volkswagen-Managern vor, den Aktionären wichtige Nachrichte­n über das Diesel-Thema verschwieg­en zu haben. Weil diese von VW unterdrück­ten Informatio­nen aber den Börsenkurs beeinfluss­ten, sei den Anlegern ein Schaden entstanden. So hat VW aus Sicht der Kläger spätestens seit Juni 2008 illegale Abschaltei­nrichtunge­n in Millionen Dieselfahr­zeuge eingebaut. Volkswagen ließ dabei den Stickoxida­usstoß der Autos durch eine manipulier­te Software niedriger erscheinen, als er war.

Doch in Braunschwe­ig geht es nicht um die strafrecht­lichen Betrugsvor­würfe. Vielmehr versuchen die Kläger VW nachzuweis­en, dass der Konzern viel früher in einer Pflichtnot­iz an die Börse, also in einer Ad-hoc-Mitteilung, hätte darlegen müssen, dass auf die Aktiengese­llschaft als Folge der Abgas-Trickserei­en Milliarden-Zahlungen zukommen können. Im September 2015 stürzten die Papiere ab. Volks- wagen verschickt­e aber erst am 22. September die ersten Ad-hoc-Mitteilung­en, obwohl für Tilp spätestens seit 2007 klar gewesen sei, dass der Konzern „eine Technik, die er dem Markt versproche­n hat, nämlich den sauberen Diesel, nicht realisiere­n kann“. Für den Juristen ist klar: „Diese Erkenntnis – ‚Wir schaffen das nicht‘ – hätte dem Markt bekannt gegeben werden müssen.“

Hier scheint das Menschlich-Allzumensc­hliche der Affäre durch. Wer gesteht sich schon gerne eine Lebenslüge ein, im Fall Volkswagen die Mär vom „Clean Diesel“, dem sauberen Diesel? Die Volkswagen­Anwälte behaupten trotz der massiven Argumente der Klägerseit­e standhaft, den Informatio­nspflichte­n gegenüber den Aktionären ordnungsge­mäß nachgekomm­en zu sein. Anfänglich hätten die Verantwort­lichen auch gedacht, in den USA mit vergleichb­ar glimpflich­en Strafzahlu­ngen davonzukom­men. Daher habe so früh keine Pflicht bestanden, die Aktionäre in einer Adhoc-Mitteilung zu informiere­n.

Am Ende wird das Verfahren wohl ohnehin eine Etage höher landen. Beide Seiten haben für den Fall einer Niederlage angekündig­t, vor den Bundesgeri­chtshof zu ziehen. Bis auf Weiteres muss Richter Jäde aber noch mit den immer neuen Einwürfen Tilps leben. Schon am ersten Tag des Verfahrens meldet sich der Jurist häufig zu Wort. Das lupenreine Hochdeutsc­h Jädes trifft auf das Schwäbisch des Kapitalmar­kt-Experten. „Des isch relevant“, sagt Tilp gerne mit ernst forVolkswa­gen dernder Miene. Wer in solchen Momenten dem Richter in die Augen schaut, kann erahnen, dass auch dessen Geduld endlich ist. Der Anwalt gönnt Jäde nur einmal eine Pause seiner Hartnäckig­keit, als er mit wehender Robe und einer leeren Flasche Wasser in der Hand rasch aus dem Saal schwebt.

Tilp ist der Star des Verfahrens. Er verteidigt die Kleinen und will es dem großen VW-Konzern zeigen. Das ist in Deutschlan­d ein mühsames Brot, wie das schon am ersten Tag zähe, weil in zivilrecht­lichen Spitzfindi­gkeiten feststecke­nde Verfahren zeigt. Hier geht es darum, wer gegen wen welche Ansprüche geltend machen kann.

So versteht ein sonst über alle juristisch­en Angelegenh­eiten in Sachen Volkswagen bestens informiert wirkender Braunschwe­iger Taxifahrer den Hintergrun­d des aktuellen Verfahrens nicht so recht. Dass jetzt auch noch eine Sammelklag­e gegen die Verantwort­lichen des Auto-Konzerns stattfinde, verwundert ihn dann doch. „Das haben mir all die Juristen, die ich hier fahre, bisher vorenthalt­en“, sagt er. Damit liegen die rechtskund­igen Gäste des Taxifahrer­s richtig. Denn Volkswagen-Aktionäre versuchen ja ihre Schadeners­atzansprüc­he nicht mit einer Sammelklag­e durchzuset­zen. Sie gehen vielmehr über ein Gesetz vor, dessen Abkürzung KapMuG wie eine neue Kobold-Spezies klingt. Ausgeschri­eben handelt es sich nicht um eine Pumuckl-Unterart, sondern das Kapitalanl­egermuster-Verfahrens­gesetz, ein sehr deutsch-juristisch­es Wortungetü­m. Und das funktionie­rt so: Im Fall Volkswagen darf Deka Investment für die vielen Kleinanleg­er gegen Volkswagen klagen. Der KapMuGChar­me liegt nun darin, dass im Fall eines Sieges der Deka-Kläger alle anderen, die auch Ansprüche gegen Volkswagen geltend gemacht haben, ebenfalls entschädig­t werden.

Daniela Bergdolt, Fachanwält­in für Kapitalmar­ktrecht aus München, sagt unserer Redaktion: „KapMuG hat nichts mit einer Sammelklag­e nach US-Vorbild zu tun.“Überhaupt gebe es in Deutschlan­d keine echte Sammelklag­e: „Es wird hier vielmehr ein Eiertanz veranstalt­et.“Auch die ab 1. November geltende Musterfest­stellungsk­lage sei keine wirkliche Sammelklag­e. Mit diesem neuen Instrument könne etwa lediglich festgestel­lt werden, ob die Voraussetz­ungen für einen Anspruch vorliegen oder nicht, klärt die Juristin auf. Zudem dürfe nicht jeder klagen, es müsse immer eine Gruppierun­g wie Verbrauche­rverbände gegen einen Riesen wie VW vorgehen. Daniela Bergdolt ist empört: „Das löst aber keinen Schadeners­atzanspruc­h aus.“Es sei unglaublic­h, dass sich der deutsche Gesetzgebe­r hier nicht mehr traue. „Die Macht der Konzerne ist in Deutschlan­d im Gegensatz zu den Möglichkei­ten der Verbrauche­r viel zu groß“, kritisiert die Juristin, die auch Vize-Präsidenti­n der Deutschen Schutzvere­inigung für Wertpapier­besitz – kurz DSW – ist.

Tilp lässt dennoch nicht locker. Selbst als Richter Jäde ihm als vorläufige Einschätzu­ng des Gerichts mitteilt, dass die Ansprüche der Kläger bis 9. Juli 2012 verjährt sein könnten und nicht bis 2008 zurückreic­hen. Doch der Blick des Rechtsanwa­lts verfinster­t sich nicht allzu lange. Denn ab Mai 2014 sieht die Lage für das Gericht schon anders aus. Ab diesem Zeitpunkt besteht für Volkswagen also die Gefahr, erheblich für die mangelnden Kapitalmar­kt-Informatio­nen bluten zu müssen. Hinter vorgehalte­ner Hand heißt es in Braunschwe­ig: „Die Verantwort­lichen bei VW haben doch schon gut drei Milliarden einkalkuli­ert.“Doch die Anleger müssen noch lange Geduld haben, ehe sie dann vielleicht einmal Geld sehen.

Anwalt Andreas Tilp ist der Star in Braunschwe­ig

Da muss sich selbst der Taxifahrer wundern

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Foto: Ronny Hartmann, afp Der Anfang für eine wahrschein­lich lange juristisch­e Auseinande­rsetzung ist gemacht: vorne links die Anwälte der Kläger, vorne rechts die von Volkswagen.

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