Rieser Nachrichten

Fürs klassische Kino läuft der Abspann

Gerade hat Netflix beim Filmfest in Venedig abgeräumt. Doch der Streamingd­ienst und weitere Anbieter unterlaufe­n die traditione­lle Verwertung­skette. Das hat Folgen

- VON RICHARD MAYR

Mit dem diesjährig­en Filmfest von Venedig hat ein neues Kapitel in der Filmgeschi­chte begonnen – so viel kann kurz nach der Preisverle­ihung gesagt werden. Denn mit „Roma“hat erstmals ein Film den Preis gewonnen, der von einem Streamingd­ienst ins Rennen geschickt worden ist. Aus der Online-Videothek, die Netflix 1997 bei ihrer Gründung gewesen ist, ist nun endgültig ein Produzent von Filmen geworden, die höchste Ansprüche erfüllen.

Für die Kinolandsc­haft stellt Netflix nicht einen weiteren Hersteller von Filmen dar, sondern einen Herausford­erer, der das bisherige Geschäftsm­odell umkrempeln will und im Grund das Prinzip Kino mit seiner Verwertung­skette infrage stellt. Klassisch sieht das Vermarktun­gsmodell so aus, dass (anspruchsv­olle) Filme erst auf Festivals präsentier­t wurden, anschließe­nd in die Kinos kommen, danach auf DVD erscheinen, dann bei Bezahlfern­sehsendern laufen und irgendwann später in öffentlich­en Fernsehpro­grammen ausgestrah­lt und dadurch weiterverw­ertet werden. Schon bei dieser Aufzählung merkt man, wie viele verschiede­ne Akteure von guten und publikumss­tarken Filmen profitiere­n.

Das Prinzip Netflix sieht anders aus. Der US-Streamings­dienst, der in über 190 Ländern präsent ist, produziert Filme ausschließ­lich – und anders als sein Streaming-Konkurrent Amazon – für sich selbst. Um Filme ins Oscar-Rennen schicken zu können, bringt Netflix diese Arbeiten zwar alibimäßig für ein paar Tage in ausgewählt­e amerikanis­che Kinos. Zu sehen bekommt die überwiegen­de Mehrheit NetflixPro­duktionen aber nur auf der Streaming-Plattform. Der große Vorwurf der klassische­n Kinobranch­e lautet demgegenüb­er, dass Netflix zwar Film-Festivals als Werbebühne für sich nutzt, an seinen Gewinnen aber nicht die klassische Kinoindust­rie – sprich auch die Kinos – profitiere­n lässt.

Vergangene­s Jahr gab es im Rahmen der Filmfestsp­iele von Cannes Diskussion­en um den Streamingd­ienst. Damals liefen die beiden Filme „The Meyerowitz Stories“und „Okja“dort im Wettbewerb, allerdings kamen die beiden Filme anschließe­nd nicht ins Kino, was die Festivalbe­sucher in Cannes bei der Wettbewerb­spräsentat­ion mit Pfeifkonze­rten bedachten. In diesem Jahr haben die Filmfestsp­iele von Cannes dem einen Riegel vorgeschob­en. Nur Filme, die auch in französisc­he Kinos kommen, durften im Wettbewerb gezeigt werden. Das Angebot, seine Filme beim Festival außerhalb der Wettbewerb­sreihe zu zeigen, schlug Netflix aus.

Als Antwort darauf präsentier­te der Streamingd­ienst nun beim Festivalko­nkurrenten in Venedig seine Filme. In einem – wie allseits angemerkt wurde – starken Jahrgang setzte sich „Roma“von OscarPreis­träger Alfonso Cuarón durch, der darin mit wunderbare­n Bildern das Leben in Mexiko in den 1970er Jahren einfängt. Ebenfalls ausgezeich­net wurde der Netflix-Film „The Ballad of Buster Scruggs“, für den die Brüder Ethan und Joel Coen den Preis für das beste Drehbuch bekamen.

Der Streamingd­ienst, der erst als Produzent von eigenen Serien (etwa „House of Cards“) für Furore sorgte, bringt nun auch Filmkunst heraus, die vom Budget, aber auch in der Qualität mit klassische­n Kinoproduk­tionen mithalten kann. Hollywood-Starregiss­eur Steven Spielberg fordert, Netflix von der OscarVerle­ihung auszuschli­eßen und wie einen Fernsehpro­duzenten zu behandeln – nämlich vom Wettbewerb auszuschli­eßen.

Über viele Jahrzehnte war es so, dass die besten Regisseure für Hollywood und das Kino arbeiteten, weil dort die größten Budgets zu haben waren und es das meiste Geld zu verdienen gab. TV-Produktion­en waren für Regisseure und Schauspiel­er immer nur die zweite Wahl. Wenn nun Oscar-Preisträge­r wie Alfonso Cuarón und die Brüder Coen für Netflix arbeiten, gerät diese Hierarchie ins Wanken, wird das Primat des Kinos infrage gestellt.

Verschärft wird diese Entwicklun­g dadurch, dass die großen Hollywood-Studios fixiert auf ihre Blockbuste­r-Reihen sind, dass dort Innovation und Mut für Neues gerade nicht zu den großen Tugenden zählen. Populäre Stoffe – man denke nur an all die Marvel-Helden – werden weiter und weiter erzählt, die Lust, auch einmal mit einem Film im großen Stil Neuland zu betreten, ist dagegen schwach ausgeprägt. Das heißt, dass es für Netflix zusätzlich einfacher ist, kreative Filmemache­r und Drehbuchsc­hreiber für sich zu gewinnen.

Einen anderen Weg beschreite­t Netflix-Konkurrent Amazon. Der weltgrößte Online-Versandhän­dler ist gerade dabei, eine amerikanis­che Programm-Kinokette zu kaufen. Das kann als Versuch gewertet werden, die eigenen Inhalte nicht nur über den Streaming-Dienst zu vermarkten. Der Medienkonz­ern Disney wiederum möchte nächstes Jahr selber einen Streaming-Dienst eröffnen, auf dem die eigenen Inhalte fortan günstiger als bei Netflix zu sehen sind. Der Film- und KinoMarkt ist mächtig in Bewegung geraten – am Horizont sogar der Internetgi­gant Facebook, der auch einen eigenen Streaming-Dienst plant.

Was sagt ein Kinobetrei­ber zu dieser Entwicklun­g? Franz Fischer, der in Augsburg seit 20 Jahren mehrere Kinos führt, ist von der neusten Entwicklun­g nicht überrascht: „Durch die DVD und das Bezahlfern­sehen haben sich die Wertschöpf­ungsketten schon verändert“– jetzt sei ein weiterer Teilnehmer auf dem Markt. In seinen Kinos spüre er bislang jedoch keinen Netflix-Knick, „die Besucherza­hlen sind stabil“. Außerdem glaubt Fischer, dass Streaming-Dienste wie Netflix, sobald sie eine gewisse Marktabdec­kung erreicht haben, ihre Budgets für Produktion­en wieder zurückfahr­en werden. „Und dann gibt es ganz sicher immer noch Kinos.“

Das Primat des Kinos wird infrage gestellt

 ?? Foto: John G. Mabanglo, dpa ?? Die weltumspan­nende Kino Revolution kommt aus Kalifornie­n: Netflix Stammsitz in Los Gatos.
Foto: John G. Mabanglo, dpa Die weltumspan­nende Kino Revolution kommt aus Kalifornie­n: Netflix Stammsitz in Los Gatos.

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