Mythos Lederhose
Die Lederhose ist eigentlich nur ein Kleidungsstück. Und doch ist sie bayerisches Kulturgut, das gerade zu Oktoberfestzeiten groß in Mode ist. Weil sie ein echtes Stück Bayern ist, glauben Sie? Von wegen! Denn die Geschichte ist ganz anders
Augsburg Die Häute glänzen goldbraun in der Herbstsonne. Sie sind durchtränkt von Fischöl – und steinhart. Eine Hirschhaut neben der anderen hängt an Haken, die in Holzbalken geschlagen sind. Hunderte Häute sind es, die hier monatelang auf dem offenen Dachboden ausreifen, wie Thomas Aigner sagt – unterbrochen nur immer wieder von einem weiteren Bad in Fischtran. All diese Tierhäute – kleine und große, glatte und vernarbte, dicke und dünne – sind ein ungewöhnlicher Anblick mitten in der Augsburger Altstadt.
Touristenführer haben die Gasse mit der Sicht auf die „Hirsche“in ihre Touren aufgenommen und erzählen den staunenden Besuchern die Geschichte der Gerberei Aigner, die am Vorderen Lech immer noch das produziert, was schon der Ururgroßvater von Thomas Aigner hergestellt hat: handgemachte, sämisch gegerbte Lederhosen – quasi die Rolls-Royce unter den Lederhosen.
Sie sind ein Kulturgut, das die ganze Welt mit Bayern verbindet – wie das Bier, die Alpen, das Dirndl. Aber wie ist dieser Mythos um die Lederhose entstanden? Wie konnte ein Kleidungsstück, ein simpler Gebrauchsgegenstand, so populär werden, dass er längst Dresscode fürs Oktoberfest ist? Dass sechs, acht Wochen vor der Wiesn dutzende Pop-up-Stores in München aus dem Boden schießen, die jedes Jahr tausende Lederhosen verkaufen? Und dass inzwischen sogar die Discounter Billig-Lederhosen anbieten?
Es genügt ein Blick in die Bierzelte am ersten Wiesn-Wochenende. Promi oder Nicht-Promi, Münchner oder Australier, Oberstudienrat oder LkwFahrer, Jung oder Alt: Fast jeder Mann trägt eine Lederhose. Eine kurze meist, manchmal auch eine Kniebundhose und seltener eine lange. „Dabei wäre vor 35 Jahren kein Mensch auf die Idee gekommen, eine Lederhose auf die Wiesn anzuziehen“, sagt Gerber Thomas Aigner, 58. Lediglich ein paar Hinterwäldler aus dem Dachauer Land seien damals in Tracht gekommen.
Auch auf Fotos von Bauernhochzeiten Ende des 19. Jahrhunderts trägt niemand eine Lederhose. „Die Männer haben schwarze Anzüge an“, sagt Aigner, „keiner wäre in kurzen Hosen zu einer Hochzeit gegangen.“So, wie es heute viele Brautpaare ausdrücklich wünschen. Im Schottenhamel-Zelt, dem ältesten auf dem Oktoberfest, tragen die Bedienungen übrigens immer noch die traditionelle Kleidung der weiblichen Bedienungen vor 100 Jahren: klassische Servierschürzen und Häubchen. In allen anderen Zelten stecken die Frauen im Wiesn-Einheitslook, im Dirndl. Und die Männer eben in der Lederhose.
Ist diese heutige Partykleidung vielleicht gar kein jahrtausendealtes Stammessymbol der Bayern? „Nein, das ist eine Mär“, sagt Thomas Aigner, „die Lederhose ist kein speziell bayerisches Produkt.“Schon Ötzi hüllte sich vor gut 5000 Jahren in ein Fell, um sich zu wärmen. Auch die Germanen hätten sich Tierhäute um die Beine gewickelt. „Das hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt“, sagt Aigner. Bis zur Hose eben, die – egal aus welchem Material – immer aus zwei Beinen besteht, die oben zusammengenäht sind. Da ist es nur logisch, dass irgendwann Ende des 18. Jahrhunderts die Menschen auf die Idee kamen, für ihre Hosen Tierhäute zu verwenden. Die sind stabil, widerstandsfähig, warm – und nach jeder Tierschlachtung erhältlich. „Früher gab es in jedem Ort einen Gerber“, sagt Aigner, wie einen Bäcker und einen Metzger. Und es war sämtliche Teile des Tieres zu verwerten.
Mit einem weiteren Irrtum räumt Alexander Wandinger, der Leiter des Trachten-Informationszentrums des Bezirks Oberbayern in Benediktbeuern, auf: Die Lederhose ist nicht, wie viele glauben, als Arbeitskleidung der Bauern entstanden. „Die hätten sich eine Hose aus Leder gar nicht leisten können“, sagt er. Außerdem war sie unpraktisch für die Arbeit im Wald und auf dem Feld. Bei Regen „bringt man die nicht mehr trocken“, sagt Wandinger, „da holt man sich Rheuma oder eine Blasenentzündung“.
Nur die Großbauern und der Adel trugen um 1800 Hosen aus Leder – eine Modeerscheinung jener Zeit und jenes Standes. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Leder vom Loden verdrängt – bis die kurze Lederhose ganz verschwand. Was der Lehrer Josef Vogl, ein Revoluzzer, bedauerte. Zusammen mit vier Stammtischfreunden gründete er am 25. August 1883 in Bayrischzell den ersten bayerischen Trachtenverein. Um den Untergang der Lederhose, dieser „uralten Tracht“, wie er glaubte, zu stoppen. Damit begann die Erfolgsgeschichte der Lederhose, sagt Wandinger, der seit mehr als 35 Jahren zu dem Thema forscht. Obwohl die Trachtenbewegung bis heute die Mär pflegt, dass die Lederhose als Teil der Tracht immer schon zu Bayern gehört hat.
Die fünf jungen Burschen aus Oberbayern jedenfalls ließen sich beim Säckler kurze Hosen aus dickem Leder schneidern, die damals noch unverziert waren. Als die fünf am Sonntag in die Kirche gingen, wurden sie von den Einheimischen verlacht. Und flogen raus. Noch 1913 wurden die Kurzhosenvereine vom erzbischöflichen Ordinariat in München für sittenwidrig erklärt. Unterstützung bekamen die Lederhosenfreunde von den Wittelsbachern, die schon lange die Idee von einer Völker verbindenden bayerischen Tracht begeisterte. König Maximilian II. ging in graugrüner Jacke und Lederhose zur Jagd, ebenso wie der österreichische Kaiser Franz Josef – um sich beim Volk anzubiedern. „Aber das machen die Politiker in ihren Trachtenjankern heute ja nicht anders“, sagt Aigner.
In den Trachtenvereinen, die sich in den folgenden Jahren im ganzen Alpenraum gründeten, sammelten sich Handwerker, Flößer, Bergarbeiter, Kleinbauern. Viele Sozialdeselbstverständlich, mokraten, die sich eine Parallelheimat schufen, in der sie eine Rolle spielten, erklärt Trachtenexperte Wandinger. Denn zu der Zeit hätten sie im Wirtshaus nicht mal am Tisch der Großbauern sitzen dürfen. Jeder Verein hatte seine eigene Tracht, seine eigenen Verzierungen. Je bunter und schriller, desto besser. Das sei wie mit einem getunten Auto, sagt Aigner, „jeder wollte den anderen übertrumpfen“. Damit wurden die Stickereien immer üppiger, besonders im Oberland und im Chiemgau. „Kein Schwabe wäre auf die Idee gekommen, für irgendwelche Stickereien Geld zu bezahlen“, sagt er. Aber die Oberbayern, die Angeber, hätten ja auch ihre Häuser mit Lüftlmalereien verziert. „In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich die alpenländische Tracht durchgesetzt“, sagt Aigner. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, als langsam der Alpentourismus einsetzte – und die Urlauber die Trachten der wilden Naturburschen und Fingerhakler als fröhliche Botschaft aus Bayern mit nach Hause nahmen. Und dann oft selbst in der Lederhose, dem neuen Freizeitoutfit der Sommerfrischler, wiederkamen.
Das war eine Modeerscheinung, wie es sie heute wieder ist. Gerade sind die kurzen Lederhosen in Antiktönen in: in Grau, Beige, Braun auf Alt gefärbt. „Das hätte vor Jahren auch noch keiner gemacht“, sagt Gerber Aigner. Er führt den Handwerksbetrieb mit fünf Mitarbeitern, der seit 1855 existiert, jetzt in fünfter Generation. Und er ist eine der letzten Erinnerungen an eine Zeit, als die Augsburger Altstadt noch nicht schick und begehrt, sondern ein einfaches Handwerkerviertel war. Aigner ist in mehrfacher Hinsicht ein Überbleibsel: Er ist auch einer der letzten Gerber in Bayern. Längst haben Gerbereien in Fernost die Lederproduktion übernommen. Die sämische Gerbung, diese spezielle Art der Haltbarmachung mit Fischöl und viel Geduld, schafft die Industrie trotz all der Chemie, die im Einsatz ist, aber bis heute nicht. So gibt es auch in Österreich noch 15, vielleicht 20 Gerber.
Auch wenn die Lederhose kein typisch bayerisches Produkt ist, sondern es Hosen aus dem Material auch in den anderen Landesteilen gab, hat sie vor allem im Alpenraum überlebt. „Vor zehn Jahren“, sagt Aigner, „hätte ich gesagt, dass wir von Pakistan oder Bangladesch abgelöst werden“, wo inzwischen 99,9 Prozent der bayerischen Billig-Lederhosen produziert werden. Heute ist das anders. Er bekommt zwar wöchentlich Mails aus Asien, in denen ihm Hosen in großer Stückzahl zu Spottpreisen angeboten werden, doch er profitiert auch vom großen Hype um den Modeartikel. „Was wir hier machen, ist Handwerkskunst“, sagt Aigner. Und dass es inzwischen eine Art Gegenbewegung zu dem Massenphänomen gibt. Heißt: Weil eine handgemachte Lederhose eine Rarität ist, wollen sie immer mehr Menschen haben. Entweder ererbt vom Großvater, eine Gebrauchte vom Flohmarkt – oder eben aus einem der Münchner Läden wie dem „Holareidulijö“. „Je älter und je kaputter, desto teurer sind sie.“1000 Euro sei man da schnell los. „Denn ins Käferzelt kann man nicht mit einer Hose vom Aldi rein“, sagt Aigner und lacht.
Bei ihm kostet das maßgeschneiderte Grundmodell etwa 550 Euro, für die Bestickungen kommen mindestens 200 bis 500 Euro dazu, bei aufwendigen Verzierungen auch mehr. In Aigners Werkstatt lagern die rohen Hirschhäute in großen, blauen Plastiktonnen, 1000, vielleicht 2000 Häute hängen auf dem Dachboden oder liegen auf großen Haufen. Überwiegend Rothirsch, aber auch Felle von Gams, Reh, Elch oder Ziege. Die Hirschfelle kommen vor allem aus Neuseeland, inzwischen aber auch immer häufiger wieder aus deutschen Wäldern. „Jetzt darf man wieder sehen, dass der Hirsch durch den Wald gesprungen ist“, sagt Aigner – an Narben, Rissen oder den Löchern, die Larven der Dasselfliege in der Haut der Tiere hinterlassen.
Vom rohen Fell, „an dem schon mal noch ein Schnitzel hängt“, bis zur fertigen Lederhose dauert es etwa ein halbes Jahr, erzählt Aigner und zeigt die großen Gerbfässer, in denen von der Enthaarung des Leders mit einer Kalklösung, dem Waschen und Spülen bis hin zum Tränken mit Dorschtran sämtliche Arbeitsschritte ablaufen. Da wird die äußerste Hautschicht entfernt, da werden Eiweißverbindungen geknackt und das Leder mit Enzymen weich gemacht. Es wird geschliffen und geklopft, getrocknet und poliert. Viele Arbeitsschritte, die hohes Wissen erfordern – und die die rohe Haut schließlich haltbar machen.
Wenn’s sein muss, ein Leben lang. Denn eine Lederhose, sagt Aigner, „wächst fünf bis sechs Kilo mit und kann nicht kaputtgehen“. Wie die zehn speckigen Exemplare, die ein Sammler aus Weißenburg gerade abgeliefert hat. Sie brauchen eine Reparatur, neue Nähte, ein paar Flicken. Vor allem aber brauchen sie erst mal ein paar Tage an der frischen Luft. Deutlich sieht und riecht man, dass sie jahrzehntelang getragen – und nie gewaschen worden sind. Was bei einer guten, sämisch gegerbten Lederhose kein Problem ist, sagt Aigner. Die darf und soll sogar in die Waschmaschine – samt rückfettender Kernseife.
Überhaupt ist so eine Lederhose ein Naturprodukt – nicht nur die Gerbung, auch das Färben mit Naturholzfarben wie vor 300 Jahren. „Die Lederhose könnte man auf den Kompost werfen“, sagt Aigner. Sie fühlt sich weich und zart an, fast flauschig. Das feine Veloursleder schmeichelt den Händen. Damit erklärt Aigner auch den Boom der Lederhose. „Unter der Woche jetten wir nach New York oder chatten mit China, am Samstag wollen wir nur die Haptik der Hirschledernen“, sagt er. Etwas Derbes, Bodenständiges. Etwas, das zu unseren Wurzeln passt. „Dafür steht die Lederhose“, sagt Aigner – vor allem, wenn sie aus Bayern kommt.
„Die Lederhose ist ein Naturprodukt. Die könnte man auf den Kompost werfen.“Gerber Thomas Aigner