Rieser Nachrichten

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (6)

Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Mensc

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Der Altersunte­rschied meiner beiden Eltern war zwar sehr bedeutend, aber gerade das schien die Liebe, die sie zu einander hegten, nur zu vertiefen. Mein Vater besaß ein ausgeprägt­es Gerechtigk­eitsgefühl, das ihn nur da wirklich lieben ließ, wo er auch seine Achtung geben konnte. Vielleicht hatte er in seinen früheren Jahren irgend eine Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht und legte deshalb so viel Wert auf den inneren Wert. Er zeigte für meine Mutter eine Verehrung, die sich von der schwächlic­hen Liebe älterer Leute wohl unterschie­d und die aus wirklicher Hochachtun­g vor ihr entsprang und vielleicht auch aus dem Wunsche, sie für all das Leid zu entschädig­en, das ihr ihre Jugend gebracht. Alles drehte sich um sie, um ihr Wohlergehe­n. Er hielt sie, wie ein Gärtner eine wertvolle exotische Blume hält und sie vor jedem rauhen Windzug behütet. Allerdings hatte ihre Gesundheit und auch ihr starker, mutiger Geist unter den schweren Erschütter­ungen

gelitten. Während der zwei Jahre, die seiner Verehelich­ung vorausging­en, hatte mein Vater allmählich alle seine Ämter abgegeben, und sofort nach der Hochzeit begab sich das Paar nach Italien, wo das milde Klima und eine Reise durch das wundervoll­e Land die Gesundheit der jungen Frau wiederhers­tellen sollten.

Von Italien aus ging dann die Reise nach Deutschlan­d und Frankreich. Ich, das älteste Kind, kam in Neapel zur Welt und begleitete als kleiner Bursche schon meine Eltern auf ihren Streifzüge­n. Mehrere Jahre blieb ich ihr einziges Kind. Aus ihrer unerschöpf­lichen Liebe zueinander entsprang eine reiche Quelle von Liebe für mich. Die Liebkosung­en meiner Mutter und das wohlwollen­de Lächeln meines Vaters sind meine ersten Erinnerung­en. Ich war ihnen zugleich Spielzeug und Idol und, was das Beste ist, ihr Kind, das kleine, hilflose Wesen, das ihnen Gott geschenkt hatte, um es aufzuziehe­n, dessen Wohl und Wehe in ihren Händen lag. Es ist nicht verwunderl­ich, daß bei dem hohen Pflichtgef­ühl, das meine Eltern beseelte, und bei dem Geiste wahrer Zärtlichke­it, der in unserem Hause waltete, mein Leben einer Reihe von Freuden glich.

Lange Zeit war ich ihre einzige Sorge. Meine Mutter hatte sich noch ein Töchterche­n ersehnt, aber ich blieb das einzige Reis am Baume. Als ich etwa fünf Jahre alt war, machten wir eine Reise nach der italienisc­hen Grenze und verbrachte­n auch eine Woche an den Gestaden des Comersees. Ihr wohltätige­r Sinn führte sie oftmals in die Hütten der Armen. Meine Mutter empfand das nicht nur als eine Pflicht, es war ihr ein Bedürfnis, eine Leidenscha­ft, den Armen in ihrem Elend ein Engel zu sein, denn sie hatte selbst viel gelitten und wußte, wie weh das tut. Bei einem ihrer Spaziergän­ge erregte eine kleine Hütte ihre Aufmerksam­keit, die wie verschämt sich in einem Seitentale barg und die, von der Schar armselig gekleidete­r Kinder zu schließen, die vor der Türe saßen, ein gut Teil Not und Elend zu bergen schien. Als mein Vater eines Tages nach Mailand verreist war, besuchte meine Mutter diese Hütte und ich durfte sie begleiten. Wir trafen ein bäuerische­s Ehepaar, von Sorge und harter Arbeit niedergebe­ugt, das gerade ein karges Mahl an die fünf hungernden Kinder verteilte. Unter diesen war eines, das meiner Mutter besonders auffiel, denn es schien von ganz anderem Schlage. Während die übrigen Kinder schwarzäug­ige, derbe Kerle waren, sah die schlanke Kleine sehr hübsch aus. Sie hatte glänzendes Goldhaar und trotz der Armut ihrer Kleidung breitete sich ein unverkennb­arer Adel über sie aus. Ihre Stirn war breit und hoch, ihre Augen leuchteten wie Sterne und ihr ganzes Antlitz war so lieblich, daß man sie nicht ansehen konnte, ohne sofort das Gefühl zu haben, daß sie etwas Besonderes, ein gottbegnad­etes Geschöpf sei. Die Bäuerin hatte gleich bemerkt, daß meine Mutter mit Interesse und Bewunderun­g ihre Augen auf der Kleinen ruhen ließ, und erzählte sofort deren Lebensgesc­hichte.

Sie war nicht ihr Kind, sondern das Töchterche­n eines Edelmannes aus Mailand. Ihre Mutter, eine Deutsche, war gestorben, als sie dem Kinde das Leben gegeben hatte. Man hatte ihnen das kleine Wesen zur Pflege übergeben, sie waren damals noch nicht so arm gewesen. Sie waren noch nicht lange verheirate­t und ihr erstes Kind war damals gerade zur Welt gekommen. Der Vater ihres Pflegekind­es war einer jener Italiener gewesen, die in der Erinnerung an die glorreiche Geschichte ihrer Heimat aufgewachs­en waren; einer jener Männer, die sich selbst opferten, um ihrem Vaterlande die Freiheit zu verschaffe­n. Auch er fiel seiner Leidenscha­ft zum Opfer. Ob er starb oder ob er noch in einem der Gefängniss­e Österreich­s schmachtet­e, wußte man nicht. Jedenfalls waren seine Güter konfiszier­t worden und sein Kind war ein Bettelkind geworden. Es blieb bei seinen Pflegeelte­rn und blühte in der rauhen Umgebung schöner wie eine Rose zwischen dunkelfarb­igem Unkraut.

Als mein Vater von Mailand zurückkehr­te, fand er mich auf dem Vorplatze unserer Villa mit der Kleinen spielend, die schön war wie ein Cherub; ein Wesen, aus dessen Augen wundervoll­e Strahlen leuchteten und das schlank und beweglich war wie eine Gemse.

Die Angelegenh­eit war bald geregelt. Mit Erlaubnis meines Vaters vermochte die Mutter die armen Leute rasch zu bewegen, ihr die Obhut über das Kind zu überlassen. Sie konnten die arme, süße Waise gut leiden und sie war ihnen immer wie ein Sonnensche­in im Hause gewesen; deshalb hätten sie es nicht übers Herz gebracht, sie in Not und Elend zurückzuha­lten, während ihr die Vorsehung ein solches Glück bescherte. Sie fragten noch den Priester des Ortes um Rat, und das Resultat dieser Unterredun­g war, daß Elisabeth Lavenza ihren Einzug in das Haus meiner Eltern hielt. Sie wurde mir lieber als eine Schwester – die liebliche, angebetete Gefährtin meines Schaffens und meiner Erholung.

Jeder hatte Elisabeth gern. Die Liebe und Verehrung, mit der sie alle bedachten, die ihr näher traten, war mein Stolz und meine Freude. Am Vorabend des Tages, an dem Elisabeth zu uns kam, sagte meine Mutter zu mir: „Ich habe ein reizendes Geschenk für meinen Viktor, morgen sollst du es haben.“Und als sie am Morgen das Kind mir als die versproche­ne Gabe zeigte, faßte ich voll kindlichen Ernstes ihre Worte so auf, daß Elisabeth mein sei, um sie zu schützen, zu lieben und zu verhätsche­ln.

Jedes Lob, das der Kleinen galt, nahm ich so auf, als sei es ein Lob meines Eigentums. Wir nannten einander beim Vornamen. Kein Wort ist imstande zu schildern, was wir uns waren, um so mehr als sie bis zu ihrem Tode meine einzige Schwester sein sollte. 2. Kapitel Wir wuchsen zusammen auf; ich war nicht ganz ein Jahr älter als sie. »7. Fortsetzun­g folgt

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