Rieser Nachrichten

Österreich als Vorbild?

In deutschen Großstädte­n fehlen fast zwei Millionen bezahlbare Wohnungen. So mancher schielt da in die österreich­ische Hauptstadt. Dort lebt jeder Vierte im Gemeindeba­u, wo die Mieten niedrig sind. Bleibt nur die Frage: Was machen unsere Nachbarn besser?

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wohnen im roten Wien: In der österreich­ischen Hauptstadt sind die Hälfte aller Wohnungen Sozialwohn­ungen. Kann ein Land mit rasant steigenden Mieten wie Deutschlan­d von der Gemeindeba­u-Philosophi­e lernen?

Wien Henriette Arienti öffnet die Tür, sie hat selbst gebackenen Apfelkuche­n und Tee für den Gast vorbereite­t. Dann fragt die 62-Jährige noch, wo man sich unterhalte­n möchte: „Im Sonnenzimm­er oder im etwas dunkleren Wohnzimmer?“Dort werfen die Bäume vor dem Fenster Schatten, ein kühler Platz an diesem Spätsommer­tag. Arienti geht den Gang entlang, Richtung Wohnzimmer. „Ja, ich habe großes Glück, hier zu wohnen“, sagt sie.

Die drei Kinder sind längst ausgezogen, von ihrem Ehemann ist sie geschieden, erzählt die Hauptschul­lehrerin. Nun hat sie die 90 Quadratmet­er im Wiener Villenvier­tel Döbling für sich allein – Wohnzimmer, Sonnenzimm­er, Arbeitszim­mer, Schlafzimm­er, dazu Küche und Bad. Gut, der Hund und der Kater sind noch da. Letzterer strolcht meist in den Gärten zwischen den Häusern umher. Wird es ihm dort zu kalt, maunzt er vor dem Fenster der Parterrewo­hnung.

Henriette Arienti hat fast ihr ganzes Leben hier gewohnt. Sie war ein Jahr alt, als ihre Eltern 1957 in den gerade fertiggest­ellten Gemeindeba­u zogen. Ihr Vater, ein selbststän­diger Installate­ur mit Geschäft im 1. Bezirk, zahlte 350 Schilling Miete, knapp 30 Euro. „Ich erinnere mich gut daran, weil ich das Geld immer

zur Hausmeiste­rin bringen musste, die den Erhalt ins Zinsbuch eintrug.“Und heute? Arienti lächelt. Vier Zimmer, 90 Quadratmet­er, 380 Euro kalt.

In deutschen Großstädte­n kann man von solchen Summen nur träumen. Vielerorts haben die Mieten extrem angezogen, Preisbrems­en zeigen kaum Wirkung. Wien beweist, dass es auch anders geht. Mehr als 1,8 Millionen Menschen leben in der österreich­ischen Hauptstadt – 62 Prozent davon in einer öffentlich geförderte­n Wohnung. Herzstück ist der Gemeindeba­u mit insgesamt 220000 Wohnungen, errichtet und vermietet von der „Wiener Wohnen“, im Schnitt für 5,89 Euro pro Quadratmet­er. Hinzu kommen 200000 andere Sozialwohn­ungen. Wer hier lebt, muss weder Kündigung noch Luxussanie­rung fürchten. Auch Henriette Arienti darf in der Vier-Zimmer-Wohnung bleiben. Ihr Mietvertra­g, der vom Vater stammt, läuft unbegrenzt.

Wer verstehen will, warum sich die Politik in Wien um die Mieter kümmert, muss mehr als hundert Jahre zurückgehe­n. Anfang des 20. Jahrhunder­ts zieht es immer mehr Menschen in die Donaustadt, 1910 leben hier mehr als zwei Millionen Bürger. Die Wohnverhäl­tnisse sind katastroph­al. 300000 Wiener können sich keine Wohnung mieten. Die „Bettgeher“, die lediglich für ein paar Stunden eine Liegestatt benutzen dürfen, werden zum Symbol für die Not in der Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg übernehmen die Sozialdemo­kraten das Rathaus. In der legendären Zeit des „Roten Wien“treiben sie den Sozialwohn­ungsbau voran, allein in den Jahren zwischen den Weltkriege­n entstehen 63000 Wohnungen. 1934 lebt bereits jeder zehnte Bürger im Gemeindeba­u, heute ist es jeder vierte.

Die Seestadt Aspern im Südosten Wiens ist ein Beispiel für die neuen Stadtviert­el, die entstehen. 30 000

sollen bis 2028 dort wohnen können, 7000 sind bereits eingezogen. Eine U-Bahn wurde in den neuen Vorort gebaut, Geschäfte, Betriebe und Freizeitei­nrichtunge­n folgten. Das Wiener Opel-Werk liegt im Viertel und gibt vielen Arbeit. Aspern ist bewusst nicht als anonyme Schlafstad­t geplant, sondern als ein lebendiges Viertel mit Schulen, Bibliothek­en und Badesee. Eine Alleinerzi­ehende, die an diesem Nachmittag in der Buchhandlu­ng stöbert, sagt: „Ich kann hier ins Badetuch gewickelt mit meinem Kind zum See gehen und zahle eine Miete, die ich mir leisten kann.“

Die Josefstadt, 1690 von Kaiser Josef I. als Wiener Vorstadt gegründet, ist eigentlich die Heimat von Professore­n, Hofratswit­wen und gut situierten Familien mit mehrstöcki­gen Gründerzei­thäusern. Auch hier gibt es einen Gemeindeba­u. Bern-

hard Gruber hat die meiste Zeit hier gelebt. Seinen echten Namen will der 45-Jährige nicht sagen, schließlic­h hat er einiges an seiner Wohnsituat­ion auszusetze­n. Er zahlt zwar nur 350 Euro für 90 Quadratmet­er, ohne Nebenkoste­n. Doch die Nachbarn gehen ihm auf die Nerven. „Sie rauchen so viel, dass ich es in meiner Wohnung rieche, machen laute Musik und nehmen keine Rücksicht“, kritisiert der Akademiker. „Sie kommen aus Kulturen, in denen andere Regeln herrschen als bei uns.“Er hat überlegt auszuziehe­n. Doch dann hat er an die Zukunft gedacht, an seine Rente, die nicht allzu üppig ausfallen dürfte. „Ich habe mich entschiede­n zu renovieren“, sagt er.

„Das Leben in Sozialwohn­ungen gilt in Wien nicht als Stigma, sondern als Normalität“, sagt Anita Aigner, Architektu­rsoziologi­n an der Technische­n Universitä­t Wien. GeMenschen

meindebaut­en sind begehrt. Wer sich für eine Wohnung bewirbt, muss mindestens zwei Jahre in Wien leben und darf als Alleinsteh­ender nicht mehr als 45510 Euro im Jahr verdienen. Steigt das Gehalt im Laufe der Jahre, muss man deswegen nicht ausziehen. Wiens Baustadträ­tin Kathrin Gaal sagt: „Mit bewusst höher gesetzten Einkommens­grenzen hat auch die breite Mittelschi­cht Zugang zu diesen Wohnungen. Das sorgt für eine gute soziale Durchmisch­ung.“Gettos soll es im Gemeindeba­u nicht geben.

Bis heute können Eltern ihre Wohnung an die Kinder weitergebe­n – allerdings nur noch unter bestimmten Voraussetz­ungen. Der ehemalige grüne Abgeordnet­e Peter Pilz, nun für die „Liste Pilz“im Parlament, hat seine Wohnung von den Großeltern „geerbt“. Der Goethehof liegt im Osten Wiens, zwischen

Donau und dem Naherholun­gsgebiet Alte Donau. 1934 zogen die ersten Mieter in den Gemeindeba­u. Heute ragen nebenan die Türme der Wiener UN-City in den Himmel. Weil die Grundstück­spreise auch hier anziehen, soll der Bestand intensiver genutzt werden. „Verdichten“nennen Architekte­n das. Für den Goethehof heißt das: Die Gebäude wurden aufgestock­t, Dachgescho­sse ausgebaut, die Zahl der Wohnungen um 20 Prozent erhöht.

Für Pilz ist das ein Aufstieg. Mehr als 40 Jahre hat er mit seiner Frau auf 61 Quadratmet­ern gelebt. Vor kurzem ist er von Stiege 14 auf Stiege 18 gezogen. „Jetzt lebe ich auf luxuriösen 90 Quadratmet­ern – eine drastische Verbesseru­ng. Ich zahle dafür auch deutlich mehr, 850 Euro.“Luxus im öffentlich geförderte­n Gemeindeba­u, geht das zusammen? Für Pilz schon. „So bleiben

Besserverd­iener im Gemeindeba­u und der Goethehof trotzdem so, wie er immer war – nämlich sozial kräftig durchmisch­t“, sagt der Parlamenta­rier. Er legt Wert auf die Aussage, er habe zusätzlich zu seiner Miete immer an die Caritas und die Stadt Wien gespendet.

Dennoch bleibt die Wiener Wohnpoliti­k eine Erfolgsges­chichte. Eine, die Fragen aufwirft. Zum Beispiel, ob so ein Modell auch in deutschen Großstädte­n funktionie­ren kann, wo Mietwohnun­gen knapp sind und die Preise immer weiter anziehen? Jahrelange Versäumnis­se lassen sich so schnell nicht aufholen, gibt die Wiener Architektu­rsoziologi­n Aigner zu bedenken. Aber letztlich ist es vor allem eine Frage des Geldes. 600 Millionen Euro im Jahr steckt die Stadt Wien allein in die Wohnbauför­derung. Das Modell stößt auch bei Politikern und Städteplan­ern in Deutschlan­d auf Interesse. Der Chef der Augsburger Wohnungsba­ugesellsch­aft, Mark Dominik Hoppe, war schon hier. Und zuletzt auch Hessens SPD-Spitzenkan­didat Thorsten Schäfer-Gümbel, der nach Lösungen für den angespannt­en Markt im Rhein-Main-Gebiet suchte. Mehr staatlich geförderte­r Wohnungsba­u müsse her, das sei die beste Preisbrems­e. „Wien bestärkt mich, dass es Alternativ­en gibt.“

Und noch etwas hat Wien anders gemacht: Die Stadt hat ihre Wohnungen

90 Quadratmet­er, vier Zimmer – 380 Euro kalt

Auch die Augsburger waren schon hier

nie verkauft, sondern stattdesse­n neue gebaut. In Bayern dagegen hat man 33 000 GBW-Wohnungen privatisie­rt – jetzt aber fehlen Sozialwohn­ungen. Dabei ist auch in Wien der Wohnungsma­rkt angespannt, die Stadt wächst, die Mieten auf dem freien Markt steigen. Mit durchschni­ttlich etwa 13 Euro pro Quadratmet­er liegen sie aber noch deutlich unter München.

Doch die Stadt versucht gegenzuste­uern. Sie hat nach wie vor 2,8 Millionen Quadratmet­er Bauland in ihrem Besitz und beschränkt den Weiterverk­auf durch strenge Regeln. „Leistbares Wohnen heißt für mich, dass maximal ein Drittel des Einkommens für Wohnen ausgegeben wird“, sagt Baustadträ­tin Kathrin Gaal. Das durchzuset­zen, ist auch in Wien komplizier­t.

Die SPÖ-Politikeri­n will den geförderte­n Wohnungsba­u neu organisier­en. Auch, um Bodenspeku­lationen zu begrenzen, die in der Vergangenh­eit oft Schlagzeil­en machten. Die Stadt soll nur noch dann Grundstück­e für den geförderte­n Wohnungsba­u zur Verfügung stellen, wenn sie 40 Jahre lang zu niedrigen Preisen weiterverk­auft werden. Auch die Mieten sollen gedeckelt werden. Die Regierung von Sebastian Kurz dagegen will Wohneigent­um fördern. Das heißt, „sie stärkt Wohnungen als Investitio­nsgut“, kritisiert Gaal. „Dabei ist es aus unserer Sicht ein Grundrecht wie Arbeit und Bildung.“

Henriette Arienti wird im Januar pensionier­t. Sie muss sich keine Sorgen machen, dass ihre Rente nicht für die Miete reichen könnte. „Ich habe genug, um wie bisher nach Italien zu reisen und meinen drei Kindern manchmal Geld zu geben. Gäbe es den Gemeindeba­u nicht, wäre das unmöglich.“Ihr Sohn, erzählt sie noch, arbeitet als Lehrer in Brandenbur­g. Er würde lieber in Berlin wohnen. „Aber dort sind die Mieten ja unerschwin­glich.“

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Foto: Volker Preußer, Imago Der Karl-Marx-Hof, fertiggest­ellt 1930, ist wohl das bekanntest­e Beispiel für den Wiener Gemeindeba­u.
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Mit Hund und Kater auf 90 Quadratmet­ern: Henriette Arienti lebt seit 61 Jahren in ihrer Wohnung.
 ?? Fotos: Mariele Schulze Berndt ?? Luxus im Gemeindeba­u: Peter Pilz ist vor kurzem innerhalb des Goethehofs umgezogen.
Fotos: Mariele Schulze Berndt Luxus im Gemeindeba­u: Peter Pilz ist vor kurzem innerhalb des Goethehofs umgezogen.

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