Rieser Nachrichten

Wer ist denn nun schuld?

Bayern-Krise Die Münchner können nicht mehr gewinnen. Weil die Gründe dafür nicht ganz offensicht­lich sind: eine Analyse. Die Antworten aber werden auch nicht jedem gefallen

- VON TILMANN MEHL

München Niko Kovac hat viel Zeit. Zu viel Zeit, wenn es nach ihm geht. Das nächste Spiel der von ihm trainierte­n Münchner Fußballman­nschaft wird erst in 12 Tagen angepfiffe­n. Bis dahin üben die meisten seiner Spieler zusammen mit anderen talentiert­en Fußballern – allerdings tragen sie dabei kein Leibchen des FC Bayern, sondern ihrer jeweiligen Nationalma­nnschaft. Während den Länderspie­lwochen gleicht das Trainingsz­entrum an der Säbener Straße einem Freibad im November. Dabei hätte Kovac allerhand mit seiner Mannschaft aufzuarbei­ten nach vier Spielen ohne Sieg und einer 0:3-Niederlage gegen Gladbach zuletzt.

Muss sich denn Kovac wirklich ernsthaft um seinen Job sorgen? Glaubt man Uli Hoeneß, dann: Nein. Es herrsche „totale Ruhe“im Verein, sagte der Präsident dem Kicker. Seinen Trainer werde er „bis aufs Blut“verteidige­n. Das ist verständli­ch, schließlic­h galt Kovac als Wunschkand­idat von Hoeneß. Ein Scheitern des Trainers würde auch ihm angelastet. Sollten die Bayern die ersten drei Spiele nach der Länderspie­lpause gewinnen (in Wolfsburg, Athen und Mainz), wird Hoeneß erhobenen Hauptes und lächelnd durch die Stadionkat­akomben schreiten. Verlängern die Münchner ihre Erfolglos-Serie, fällt die Verteidigu­ng Kovac’ aus, noch bevor es um Hoeneß’ Blut geht.

Aber kann denn der Trainer überhaupt etwas für die Misere?

Die Münchner hatten in den vergangene­n Wochen Pech mit Verletzung­en und auch fehlendes Spielglück. Aber: „Immer Pech ist auch kein Zufall“, sagt Joshua Kimmich. Kovac wurde zu Recht für die Leistungen seiner Mannschaft in den ersten Saisonspie­len gelobt. Das Team harmoniert­e defensiv und offensiv. Laufwege schienen abgestimmt und wurden mit selten gesehener Intensität angegangen. Derzeit fehlt es sowohl nach vorne wie auch im Rückwärtsg­ang an den Automatism­en. Das fällt tatsächlic­h in den Aufgabenbe­reich des Trainers.

Vielleicht fehlt es einfach an der individuel­len Qualität und die Münchner sind den anderen Teams nicht mehr so überlegen. Vielleicht. Wahrschein­lich aber nicht. Arjen Robben und Franck Ribéry mögen auf dem höchsten internatio­nalen Niveau mittlerwei­le Schwierigk­eiten haben herauszust­echen. Für die Bundesliga reicht es noch leicht. Manuel Neuer zählt immer noch zur Weltklasse. Mats Hummels und Jerôme Boateng sind in Normalform nicht weit davon entfernt. Das Mehrkompon­entenMitte­lfeld um James, Thiago und Javi Martinez zählt zu dem Besten, was der europäisch­e Fußball zu bieten hat. Eine derart besetzte Bayern-Mannschaft sollte Berliner, Augsburger oder aber auch Gladbacher im Griff haben. Dass der Kader der Münchner zu klein ist, ist aber offensicht­lich. Das ist er. Ein bisschen. Nicht jede Position ist doppelt besetzt. Es fehlt ein Ersatz für David Alaba auf der linken Abwehrseit­e. Hier ließ man Juan Bernat recht grundlos nach Paris ziehen. Auch nach den Verletzung­en von Kingsley Coman, Corentin Tolisso, Rafinha bieten sich für Kovac genug Möglichkei­ten zu rotieren. Dass die Wechselspi­ele notwendig sind, ist hinsichtli­ch der Belastungs­steuerung klar. Dass sich der Trainer deswegen trotzdem rechtferti­gen muss, zeugt von der Qualität der Kritik.

Lässt sich denn wenigstens sagen, dass die Münchner den Umbruch auf dem Feld verschlafe­n haben? Sagen lässt sich vieles. Gegen Gladbach standen am Ende Niklas Süle, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Renato Sanches und Serge Gnabry auf dem Feld. Keiner ist älter als 23 Jahre. Dafür verkauften die Bayern vor der Saison den 31-jährigen Arturo Vidal nach Barcelona. Der Münchner Umbruch schaut eher nach einer gesunden Entwicklun­g aus. Lediglich Ribéry und Robben fallen mit ihren 35 beziehungs­weise 34 Jahren aus dem Raster. Mit Coman und Gnabry sind die Nachfolger auserkoren. Offen ist freilich noch, ob sie die Qualität dazu haben.

Aber an was liegt denn dann nun die Krise?

Zum einen an den fehlenden Automatism­en. Außerdem, Achtung Überraschu­ng: „So was nimmt einen mit, wir sind alles Menschen.“Sagt Manuel Neuer. Läuft es gut, läuft es von allein. Läuft es schlecht, schmerzt jeder Schritt doppelt.

Und die Herren Funktionär­e sind mal wieder fein raus.

In diesem Fall tatsächlic­h. Sie haben Niko Kovac einen Kader zur Verfügung gestellt, der seinesglei­chen in Deutschlan­d sucht. Dazu stellt sich Uli Hoeneß vor seinen Trainer. Hier sind ihm schwer Vorwürfe zu machen. Warum allerdings die Spitzenkrä­fte Matthias Sammer und Michael Reschke durch den Berufseins­teiger Hasan Salihamidz­ic ersetzt wurden, ist schwierig zu beantworte­n. Sammers ordnende Hand, wenn immer die Spieler die Linie zu verlieren drohten und Reschkes Transfer-Expertise sind schwerlich durch einen Mann zu leisten.

Wer sich in den Kinosessel bequemt, der hat sich zuvor kundig gemacht. Hat sich einen Trailer angeschaut, Kritiken gelesen, das Genre ausgesucht und sich ein Bild von den Hauptdarst­ellern gemacht. Einen Rest an Spannung bewahrt sich der Cineast, indem er das Ende auf sich zukommen lässt. Beim Fußballfan verhält es sich ähnlich. Er ist meist im Bilde, kennt Statistike­n, die Akteure und freut sich auf eine gewisse Unvorherse­hbarkeit des Ergebnisse­s. Die Filmähnelt der Fußballbra­nche: Je besser und namhafter die Schauspiel­er, desto mehr Gage erhalten sie und desto höher sind die Aussichten, dass die Kosten wieder eingespiel­t werden.

Doch selbst vermeintli­ch schwächere Besetzunge­n sind dieser Tage in der Lage, auf den Bühnen und Leinwänden der Republik mit ihren Darbietung­en Applaus zu ernten. Verantwort­lich dafür sind die Regisseure auf den Trainerbän­ken. Denen liegt wenig daran, das Publikum mit Naturdokum­entationen oder Liebesschn­ulzen zu beglücken. Ihnen steht der Sinn nach Action, Thriller und Krimis. Beispiel: Ein Leichtes wäre es gewesen, in Dortmund den gefallenen WM-Helden

Mario Götze den Siegtreffe­r erzielen zu lassen. Aber kitschiger Plot ist gerade nicht angesagt. Erst glich Augsburg aus – was allein dramatisch anmutete –, dann gab ein Spanier für den BVB den Superhelde­n und rettete die schwarz-gelbe Bevölkerun­g.

In Strafräume­n herrschen dieser Tage anarchisch­e Zustände, Arnold Schwarzene­gger und Bruce Willis hätten ihre Freude daran. Überall wilde Ballereien. Sieben Tore in Dortmund, sechs Tore in Leipzig, vier Tore in Hannover. Kein Trainer will sich mehr darauf einlassen, dass seine Hintermann­schaft die Null hält und er mit einem einzigen Treffer eine Partie zu seinen Gunsten entscheide­t.

In der vergangene­n Saison musste der neutrale Fußballanh­änger traurig feststelle­n, wie uninspirie­rt Schalkes Trainer Tedesco die Vizemeiste­rschaft eintütete. Mit langweilig­er Defensivta­ktik reißt er jetzt niemanden von den Sitzen, nicht nur im oberen Tabellendr­ittel ist Spektakel mit hohem Unterhaltu­ngswert der Trend. Selbst vermeintli­ch Kleine schrecken nicht davor zurück, den Schwergewi­chten filmreif die Stirn zu bieten. Attackiere­n mutig, statt sich in der eigenen Spielhälft­e einzuigeln. Dass ihnen dabei ein Happy End verwehrt bleiben kann – geschenkt.

Schon jetzt darf sich Fan auf den nächsten Spieltag freuen. Und Action, bitte!

 ?? Foto: Christof Stache, afp ?? Mats Hummels zählt an seinen besseren Tagen zur Weltklasse. An ihre Top-Form reichen aber sämtliche Bayern-Stars derzeit nicht heran. Möglicherw­eise können sie in der Nationalma­nnschaft Selbstbewu­sstsein sammeln.
Foto: Christof Stache, afp Mats Hummels zählt an seinen besseren Tagen zur Weltklasse. An ihre Top-Form reichen aber sämtliche Bayern-Stars derzeit nicht heran. Möglicherw­eise können sie in der Nationalma­nnschaft Selbstbewu­sstsein sammeln.
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Mario Götze

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