Kunst spinnen
Leipzigs Baumwoll-Spinnerei verbindet Geschichte mit Kreativität
Die grüne Flügeltür unter dem Glasvordach aus der Zeit der Jahrhundertwende steht weit offen. Etwas versteckt liegt das künstlerische Zuhause von Claudia Biehne in diesem Gebäude am Rande der Leipziger Baumwoll-Spinnerei. „Nr. 10 F“prankt schwarz auf weißem Grund an der Ziegelsteinmauer. Seit 2003 ist die Leipziger Porzellankünstlerin ein Teil der Szene hier. Die kreative Lockerheit der Anfänge spürt die 44-Jährige noch heute. „From Cotton to Culture“lautet der Slogan auf dem Gelände im Stadtteil Plagwitz. Übersetzt etwa: von der Baumwolle zur Kultur. Denn die alte Spinnerei war einst ganz neu: 1884 errichtet, um den weltweiten Bedarf an Baumwolle zu decken. Heute gilt das Gelände als Herzstück der Leipziger Kunstszene – allen voran die Neue Leipziger Schule um Malerstar Neo Rauch. Auf rund 100000 Quadratmetern befinden sich im Osten der Stadt Galerien, Projekträume und Ateliers, die nationale und internationale Kunst präsentieren. Eine Stadt in der Stadt, das war die Baumwollspinnerei von Anfang an. Georg Lisek, selbst Künstler und als Kunstpädagoge bei Führungen auf dem Areal im Einsatz, zeigt auf das große Aquarell im Archiv Massiv, dem Besucherzentrum im ältesten Gebäude der Spinnerei. Nach nur 25 Jahren hatte sich die Leipziger Baumwollspinnerei zur größten auf dem Kontinent entwickelt: sechs Hektar, 20 Gebäude, vier bis fünf Geschosse. 240000 Spindeln, 208 Kämmmaschinen, 1600 Arbeiter. Es gab eine Betriebsfeuerwehr,
Werkskantine, Badeanstalt, Kindergarten. Den Krieg überstand das Gelände, weil die Dächer begrünt waren und so riesig, dass die Bomberpiloten sie für Wiesen hielten – so die Legende. Im Lustgarten der ehemaligen Direktorenvilla fällt der Blick auf die Arbeiterwohnungen, die heute begehrter Wohnraum sind. Idyllisch im Schatten der Bäume gelegen, schmecken hier Kaffee, Kuchen und warme Kleinigkeiten. Eine Stärkung vor dem Rundgang über das Gelände. Eine weitläufige, ehrwürdige Fabrikanlage. Unglaublich schöne riesige Räume mit fantastischer Lichtsituation. Das war und ist das Markenzeichen der Spinnerei.
Im Jahr 2000 wurde die letzte Produktionsstätte geschlossen, 2001 kauften drei Immobilienmakler aus Westdeutschland das Areal. Anderswo wären daraus vielleicht Loftwohnungen geworden. Doch für die gibt es im Leipzig der Jahrtausendwende keine Mieter. „Dann blüht etwas auf, wie Phoenix aus der Asche“, schwärmt Lisek. Und meint die Künstler, die dem Gelände neues Leben einhauchen. Die Neue Leipziger Schule hat hier ihre Wurzeln, Star Neo Rauch noch immer sein Atelier. Wo genau, das darf und will der Gästeführer nicht verraten. Dafür diese Anekdote: Zu Hochzeiten liefen in der Spinnerei die Telefone heiß. Sammler aus Amerika kauften ungesehen alles, Hauptsache Leipziger Schule. Bis 2009 entwickelt sich die Baumwollspinnerei zu einem der größten kulturellen Zentren für kunstinteressierte Reisende aus aller Welt. Bereits 2007 nennt der englische „Guardian“die Kunstfabrik „the hottest place on earth“(der heißeste Platz der Welt) – die Kunst betreffend. Bekannte Galerien wie die Galerie Eigenart von Judy Lübke lassen sich auf dem Areal nieder. Zwei Mal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, lädt die Spinnerei zum großen Rundgang.
Es ist und bleibt ein Spagat zwischen Arbeitsort und Angebot an die Öffentlichkeit. „Zum einen darf die Spinnerei nicht zum Künstlerzoo oder Rummelplatz werden, und daher werden auch viele Anfragen in diese Richtung konsequent abgesagt“, sagt Michael Ludwig, Pressesprecher der Spinnerei. Zum anderen brauche natürlich auch jeder Künstler die finanzstarken Sammler.
Im Wandel der Zeit
Das sieht auch Sebastian Burger so. Sein Atelier liegt im Haus 18, seit 2009 ist es sein künstlerisches Zuhause. 110 Quadratmeter, perfektes Licht. „So ein super schönes Atelier wäre woanders unbezahlbar“, sagt der Maler. Die Spinnerei vereint für ihn das Beste aus beiden Welten. Er mag die verschlafenverträumte Stimmung am Wochenende, aber auch die Betriebsamkeit unter der Woche. „Ich merke natürlich, wie sich das Gelände immer mehr füllt“, sagt Burger. Seine Hoffnung: dass sich der Wandel behutsam vollzieht.
Bei einer kurzen Verschnaufpause zwischen den großen Hallen 18 und 14 zieht die Geschichte des Geländes vor dem inneren Auge vorbei. Der Blick fällt auf die beeindruckenden Fensterfronten mit den riesigen Scheiben. Eine Flucht-Wendeltreppe schlängelt zum Dach empor. Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie die Arbeiter einst ihrem Tagwerk nachgingen. In Halle 14, dem Herz der Spinnerei, liegt sogar noch leichter Maschinenölgeruch in der Luft. Hier präsentiert der Verein Halle 14 eigene Ausstellungen. Für Porzellankünstlerin Claudia Biehne ist ihr Atelier gleichzeitig auch Ausstellungsraum. Interessierte Besucher können bei der Entstehung der zarten Einzelstücke zusehen oder die fertigen Werke in den Regalen bewundern. „Im Vergleich zu Berlin habe ich hier Luft zu atmen“, nennt die Künstlerin als einen Grund, warum sie der Spinnerei auch nach 15 Jahren die Treue hält. Gästen legt Biehne einen Besuch im Luru-Kino ans Herz. Gleich hinter dem hohen Schornstein der Spinnerei geht es hinab in den Keller. Und auch hier wartet schon die Kunst. Die Tapeten der Räume sind Original-Linol-Schnitte von Künstler Christoph Ruckhäberle, der gemeinsam mit Michael Ludwig das Luru führt. Das kleine Programmkino mit täglichem Spielbetrieb, das man auch mieten kann, ist für viele Anlaufpunkt und heimliches Highlight des Geländes. Durch den Hinterausgang geleitet Besucherguide Lisek die Gäste in die halbunterirdischen Gänge der Spinnerei. Die festungsartigen Fundamente sorgen für ein tolles Klima und konstante Temperaturen zwischen 16 und 17 Grad. Ideale Bedingungen für die Druckereien, deren Reich hier unten liegt. So hat die Kunst jeden Quadratzentimeter der Spinnerei erobert.