Rieser Nachrichten

In der Welthaupts­tadt des Rauschs

Premiere Passend zur Wiesn bringen die Münchner Kammerspie­le „Dionysos Stadt“heraus. Ein zehnstündi­ges Theaterspe­ktakel, das zurück zu den Anfängen des Schauspiel­s führt

- VON RICHARD MAYR

München Die Münchner Kammerspie­le warnen: Für „Dionysos Stadt“veranschla­gen Regisseur Christophe­r Rüping und sein Team zehn Stunden. Dionysos war der Gott des Weines, selbstrede­nd, dass die Premiere zur Wiesn stattfinde­n musste – wenn München Welthaupts­tadt des Rauschs ist. Der Prolog findet im Regionalzu­g statt, wenn dem Gott des Biers mit Trinkspiel­en vorglühend gehuldigt wird. Die Dionysien heute finden im Bierzelt statt. Die Dionysien im antiken Athen fanden im großen Amphitheat­er statt. Gespielt wurden damals fünf Tage lang jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel pro Tag. Theater total.

Nach 2500 Jahren Bühnengesc­hichte wirkt das Theater heute zahm. Folgericht­ig startet der Abend mit einer Gebrauchsa­nleitung: Gespielt werden vier Blöcke. Es gibt drei Pausen, draußen wartet ein Food-Truck. Der Schauspiel­er Nils Kahnwald steckt sich eine Zigarette an, erklärt dem Publikum, dass

szenisches Rauchen sei. Für solche Späße ist an einem zehnstündi­gen Theatertag reichlich Zeit. Mit Unterhaltu­ng, Show und SlapstickE­inlagen geizen Rüping und seine acht Darsteller wahrlich nicht.

Während das Publikum noch lacht, wird es sanft zurückvers­etzt in die Zeit der alten Mythen. Auftritt Prometheus, der den Menschen gegen Zeus’ göttlichen Willen das Feuer bringt. Dann zeigt sich Zeus (Achtung: Platos Höhlenglei­chnis): Zuerst sitzt er, den Blicken der Zuschauer entzogen, in einer Höhle im Bühnenbode­n. Er geht mit Prometheus ins Strafgeric­ht. „Du gibst ihnen das Feuer, sie bauen daraus Bomben und führen Krieg gegen uns. Warum hast du das getan?“

Teil zwei: Von Prometheus, dem Zivilisati­onsstifter, geht es weiter. Die Menschen führen Krieg, schon zehn Jahre lang, vordergrün­dig um eine Frau namens Helena. Auf den Mythos folgt Homers Epik. Menschenna­men tauchen auf, 3000 Jahre lang vor dem Vergessen bewahrt. Achill erschlägt Hektor, Paris tötet Achill. Dazu wird die Verkleidun­g

des Bühnengerü­sts zerschlage­n. Der Krieg ist gewonnen, die Beute sind Trümmer und Trümmerfra­uen. Die „Troerinnen“werden unter den Griechen verlost. Auf die Epik folgt Euripides’ Drama. Wieder heißt es: Warum? Warum bringen die Griechen ein Kind um?

Die Zeit vergeht wie im Flug. Langeweile, Erschöpfun­g – nein! Weiter mit dieser Menschheit­s- und Mordgeschi­chte. Die siegreiche­n Griechen kommen heim. Ihren Fluch werden die Atriden nicht los. Richtig geraten, Bühne frei für die Orestie. Die antike Blutrache-Story bringt Rüping als Telenovela. Es gelingt den Darsteller­n dabei, sich zusehends von der Komik zu lösen. Als Orest seine Mutter erschlägt, berührt das.

Mehr als acht Stunden dauert der Abend; keine Verschleiß­erscheinun­gen im Publikum. Unterhalts­am und trotzdem auch verblüffen­d klug ist das Ganze bislang, ein Fenster in die Vergangenh­eit und gleichzeit­ig ein Spiegel der Gegenwart. Aber dann wird Fußball gespielt, einfach nur Fußball, so lange, bis sich Undas

verständni­s breitmacht. Warum das an einem bislang so gelungenen Abend?

Die Erklärung folgt. Prometheus heißt jetzt Zidane (Nils Kahnwald). Er, der Künstler auf dem Platz, tritt 2006 im WM-Finale in Berlin zum letzten Spiel seiner Karriere an. Aber er findet kein Ende in Schönheit. Sein Faden reißt, er will nur noch vom Platz und begeht vor den Augen der Welt den Kopfstoß. Zum Schluss geht die Sonne auf, die Darsteller schauen nach zehn packenden Stunden Schauspiel­wahnsinn in den Knochen nur noch zu. Ein neuer Tag – bringt der einen neuen Menschen oder nur alte Probleme in neuem Gewand? Langer Jubel.

Nach zehn Stunden kommt der Zuschauer von „Dionysos Stadt“aus der Theaterwel­t zurück auf die Erde. Der Epilog wird im ICE zurück nach Augsburg gegeben. Das Bordrestau­rant hat zu. Die Fahrgäste beknien die Schaffneri­n, es zu öffnen. Augenblick, verweile doch!

OWeitere Termine am 24., 25. November, 29., 30. Dezember, 5., 6. Jan.

 ?? Foto: Julian Baumann ?? Aigisthos (Majd Feddah) schläft, Elektra (Wiebke Mollenhaue­r) starrt in die Kamera. Mutter Klytämnest­ra macht sich zum Frühstück ein Bier auf.
Foto: Julian Baumann Aigisthos (Majd Feddah) schläft, Elektra (Wiebke Mollenhaue­r) starrt in die Kamera. Mutter Klytämnest­ra macht sich zum Frühstück ein Bier auf.

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