Missbrauch: Prozess immer komplexer
Eine Mutter soll sich an ihrem Sohn vergangen haben. Vor Gericht tauchen immer mehr Fragen auf. Auch die Gutachter sind sich nicht einig, ob das Opfer die Wahrheit sagt
Aalen Statt dem Sachverhalt näher zu kommen und das klare Bild einer möglichen Straftat zu erhalten, werden im Prozess um eine Mutter, die ihren Sohn mehrmals missbraucht haben soll, am zweiten Prozesstag erneut mehr Fragen aufgeworfen, als geklärt. Stimmt das, an was sich das mutmaßliche Opfer erinnert, der heute 18-jährige Sohn? Ist er der Vater seines Bruders? Und warum hat er erst nach rund 16 Jahren sein Schweigen gebrochen?
Einer 42-jährigen Aalenerin wird vorgeworfen, zwischen 2002 und 2011 ihren 1999 geborenen und geistig behinderten Sohn sexuell missbraucht zu haben, in einem Fall sogar schwer. Dabei soll es zu Geschlechtsverkehr gekommen sein. Die Mutter bestreitet die Vorwürfe vor dem Schöffengericht am Aalener Amtsgericht.
Am zweiten Verhandlungstag sieht das Gericht die Videovernehmung des Opfers 2016 im Polizeipräsidium Ellwangen. Der junge Mann hatte bei der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Außerdem sagt ein Mitarbeiter des Jugendamtes Aalen aus und die Sachverständigen stellen ihre Gutachten vor: zwei über die Glaubhaftigkeit des Opfers, einer über die Schuldfä- higkeit der Mutter. Gutachter Dr. Thomas Heinrich zufolge habe die Angeklagte die Vorwürfe auch bei ihm immer bestritten und gesagt, dass es sich bei den Anschuldigungen um einen Racheakt des Pflegevaters handle. Sie sei lesbisch. Den Ausführungen nach ist sie zweimal verheiratet gewesen, aber nur, um Kinder zu bekommen. Sie habe seit einiger Zeit eine Freundin. Der Psychologe ist der Ansicht, dass die Angeklagte nicht an einer Persönlichkeitsstörung oder Schizophrenie leide – anders als in einem anderen Gutachten ausgeführt. Eine Intelligenzminderung liege allerdings vor. Sollte sich der Tatvorwurf bestätigen, glaubt der Sachverständige, dass es sich um Einzeltaten gehandelt habe, die lange her seien. Er geht nicht davon aus, dass etwa ihr anderes Kind in Gefahr sei und sagt, dass er keine pädophilen Züge habe erkennen können: „Sex mit Kindern ist ungewöhnlich, mit den eigenen erst recht, aber daraus lässt sich keine Pädophilie ableiten.“Am zweiten Prozesstag betont die 42-Jährige weiter, dass sie nicht lüge und schwört auf die Bibel, die sie vor sich auf dem Tisch gelegt hat und hin und wieder berührt.
Die Videovernehmung sollte bereits am ersten Verhandlungstag gezeigt werden, allerdings verstand man von der Aussage des mutmaßli- chen Opfers nur sehr wenig. Gestern war der Ton zwar lauter, aber noch immer nicht jedes Wort klar zu hören. Verteidiger Peter Hubel bezeichnete die Aufnahme als „Müll“. Das Opfer wurde im Video vom Ermittlungsrichter vernommen. Auf die Frage, wie oft der Missbrauch stattgefunden hätte, antwortete der junge Mann: „zu viel“, auf die konkrete Nachfrage: „über zehn Mal“. Er sagte auch, dass er geschlagen worden wäre, wenn er nicht mitgemacht hätte. Er habe erst später erkannt, dass die sexuellen Handlungen nicht normal seien.
Auch ein Sozialpädagoge des Jugendamts Aalen wird als Zeuge befragt, nachdem die Anzeige von der Behörde ausging. Richter Reuff will wissen, wie es dazu kam. Der Zeuge schildert, dass der Bub sich Ende 2011, nach seinem 16. Geburtstag, sowohl seinem Pflegevater als auch seinem Lehrer geöffnet habe. Der Bericht des zuständigen Psychologen in Nördlingen war schließlich Grundlage der Anzeige. Auch sein Halbbruder sei ständig Thema gewesen. Vom Zeugen wird dann der Vorwurf des Opfers angesprochen, dass es der Vater seines Halbbruders sein könnte. Die Thematik ist dem Mitarbeiter des Jugendamts bekannt, er sagt: „Die zeitlichen Abläufe sind geprüft worden und deshalb ist es nicht möglich, dass er der Vater ist.“Staatsanwalt Ulrich Karst will konkret wissen, wie diese Prüfung aussah. Der Zeuge gibt an, dass man vom Geburtstermin des Bruders zurückgerechnet habe. Im Zeitraum einer möglichen Zeugung habe es keine vom Jugendamt nachgewiesenen Kontakte zwischen Mutter und Sohn gegeben.
Schließlich werden die Gutachten zur Glaubfähigkeit des jungen Mannes vorgetragen. Die Stuttgarter Psychologin Dr. Judith Arnscheid ist der Ansicht, dass der 18-Jährige, der inzwischen nahe Nördlingen bei dem Pflegevater wohnt, nicht lügt und auch keine sogenannten Pseudoerinnerungen vorliegen. Sie ist bei der Videovernehmung 2016 dabei gewesen und hält die Aussage für wahr. Der Tübinger Psychologe Josef A. Rohmann dagegen sagt, dass es zu wenig verwertbares Material gebe, um die Aussagen des des mutmaßlichen Opfers als wahr oder falsch einstufen zu können.
Das Urteil soll nächsten Donnerstag nach den Plädoyers fallen. Der Vorsitzende Richter lehnt einen Beweiseantrag der Nördlinger Nebenklägervertreterin Dr. Andrea Theurer ab. Sie will erneut das Opfer als Zeugen laden. Ihr zufolge habe der 18-Jährige vor Gericht nur nicht aussagen wollen, weil er Angst vor der Mutter hatte, die direkt neben ihm saß.