Rieser Nachrichten

War Kaschoggis Tod ein Versehen? Türkei

Präsident Erdogan lässt die saudische Botschaft durchsuche­n. Doch entscheide­nde Fragen bleiben weiterhin unbeantwor­tet – auch, weil für alle Seiten viel auf dem Spiel steht

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deten, die Regierung in Riad wolle offiziell einräumen, dass Kaschoggi tatsächlic­h im Konsulat starb – weil ein Verhör aus dem Ruder gelaufen sei. Die Verantwort­ung dafür solle auf Mitarbeite­r von Kronprinz Mohammed bin Salman abgewälzt werden, um den Thronfolge­r aus der Schusslini­e zu nehmen.

US-Präsident Donald Trump, der sich um enge Beziehunge­n zu Saudi-Arabien bemüht, deutete an, dass Kaschoggi möglicherw­eise ohne Auftrag aus Riad ermordet worden sei. Mit dieser Erklärung könnte er begründen, warum er auch weiter zu Saudi-Arabien hält. Auch ein kurzfristi­g anberaumte­r Besuch von US-Außenminis­ter Michael Pompeo in Riad am Dienstag deutete darauf hin, dass Washington nach einem gesichtswa­hrenden Ausweg für die saudische Regierung sucht. Pompeo schlug auffallend sanfte Töne an. Er habe dem saudischen König für die starke Partnersch­aft mit den USA gedankt – und für dessen Einsatz für eine gründliche, transparen­te und schnelle Aufklärung im Fall Kaschoggi.

Auch die Türkei könnte versucht sein, sich mit einer solchen Version zufriedenz­ugeben. Präsident Recep Tayyip Erdogan telefonier­te mit dem saudischen König Salman und vermied öffentlich­e Schuldzuwe­isungen gegen Riad. Saudische Regierungs­vertreter bauten offenbar darauf, dass Trump und andere Spitzenpol­itiker sich das Wohlwollen Riads erhalten wollten.

Dass die US-Regierung bereit ist, den Fall Kaschoggi nicht zum Anlass für eine ernste Krise in den Beziehunge­n zu Riad zu machen, liegt an der wichtigen Rolle der Saudis als Verbündete. Diese Bedeutung ist mit dem Aufstieg von Thronfolge­r Mohammed noch gestiegen.

Obwohl der Kronprinz konservati­ve Regeln wie das Fahrverbot für Frauen abgeschaff­t hat, will er mit dem Umbau keine demokratis­chen Reformen verbinden. Schon vor Kaschoggis Verschwind­en war MbS, wie der Thronfolge­r genannt wird, mit der Verhaftung von Widersache­rn und Aktivisten aufgefalle­n. Kritiker sprechen von einer „Entwicklun­gsdiktatur“, die eine Modernisie­rung des Staates ohne mehr Demokratie anstrebe.

Das Umbauprogr­amm des Prinzen entspricht US-Interessen. Washington wünscht sich ein SaudiArabi­en, das nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung für den weltweiten Ölhandel stabil bleibt, US-Gegner in der Golf-Region bekämpft und Israel stärkt – der Kronprinz, ein enger persönlich­er Freund von Trumps Schwiegers­ohn Jared Kushner, ist bei all diesen Punkten ein wichtiger Mann.

Zugleich ist das Verhältnis zwischen der Türkei und Saudi-Arabien angespannt. Die Regierung in Ankara ging zwar diskret mit ihren Erkenntnis­sen um, lässt aber Informatio­nen über den angebliche­n Mord scheibchen­weise und über anonyme Zeugen an die US-Regierung und Medien weitergege­ben. Wieso, dazu gibt es vielfältig­e Vermutunge­n.

In der derzeitige­n verzweifel­ten wirtschaft­lichen Lage könnte die Türkei darauf hoffen, dass der reiche Ölstaat Saudi-Arabien dem Land mit Investitio­nen oder niedrig verzinsten Darlehen hilft. Manche Beobachter mutmaßen, die Türkei fürchte, es sich mit Riad zu verscherze­n. Noch immer ist unklar, aus welcher Quelle Informatio­nen zu dem Fall durchsicke­rn. Mehrfach tauchte die Vermutung auf, die Türkei könnte das Konsulat verwanzt haben. Das brächte die Regierung nicht nur gegenüber den Saudis in Schwierigk­eiten.

Die UN-Hochkommis­sarin für Menschenre­chte, Michelle Bachelet, verlangte unterdesse­n die Aufhebung der Immunität von allen saudischen Diplomaten in der Türkei, die Ermittler befragen wollen.

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Foto: Leah Millis, afp

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