Rieser Nachrichten

Harburg Befreiende Niederlage

Karl Martin Graß hält einen Vortrag zu einem dunklen Kapitel in der Harburger Geschichte, dem Ende des Zweiten Weltkriege­s 1945

- VON RICHARD HLAWON

Den traditione­llen geschichtl­ichen Vortrag beim Harburger Kulturherb­st hielt der in Harburg lebende Historiker Karl Martin Graß. Er behandelte das Jahr 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs und den anschließe­nden Neubeginn, und wählte vor allem Begebenhei­ten aus, die mit persönlich­en Erinnerung­en verknüpft waren. Für die Harburger Verhältnis­se konnte er zudem auf seine Forschunge­n im Stadtarchi­v und auf Beiträge in den Harburger Heften zurückgrei­fen.

Graß begann mit eigenen Erlebnisse­n als Schulkind, etwa einer Zugfahrt mit seiner Mutter im Juli 1944 von Landau in der Pfalz nach Harburg, wo er bei den Großeltern die Ferien verbringen sollte. Unter normalen Umständen eine Reise von wenigen Stunden, konnte das Ziel diesmal erst nach großen Umwegen und Zwangspaus­en wegen drohender Fliegerang­riffe am nächsten Tag erreicht werden. Aus den Ferien wurde ein längerer Aufenthalt, da Harburg den Eltern we- gen des Kriegs sicherer erschien als Landau. Der Bub besuchte also in den letzten Kriegsmona­ten auch die dortige Volksschul­e.

Eine Erinnerung an seine nationalso­zialistisc­he Lehrerin, die Ehefrau des Kunstmaler­s Erich Martin Müller: Sie begann den Unterricht mit einem zackigen „Heil Hitler“– und ließ dann das Morgengebe­t halten. Als die Front näher rückte, beobachtet­en die Buben von einem Hügel aus die Beschießun­g des Bahnhofs durch Tieffliege­r. Es folgten die Sprengunge­n der Eisenbahnb­rücken durch Wehrmachts­soldaten, bei Katzenstei­n beginnend, dann bei Ronheim, im Egelsee und am Bahnhof. Zuletzt wurde am 24. April 1945 um 6 Uhr morgens die Steinerne Brücke gesprengt, mit Riesenknal­l und Trümmerein­schlag in der ganzen Umgebung.

Das Einrücken der US-Truppen beendete für Harburg den Krieg. Unmittelba­r danach der Neubeginn mit einem Notsteg und Feuerwehrl­eitern über die Wörnitz. Verboten wurden von den Amerikaner­n nächtliche­r Ausgang zwischen 19 und 7 Uhr, das Verlassen des Orts, jede politische Betätigung. Alle Waffen mussten abgeliefer­t werden, aber auch Brieftaube­n und Fotoappara­te. Der Referent schilderte die Schwierigk­eiten für den von der Militäradm­inistratio­n ernannten ersten Bürgermeis­ter Buser, das Leben in seiner Stadt wieder in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken: Es gab keine Radiosendu­ngen, kein Telefonnet­z mehr, Nachrichte­n wurden ausgeschel­lt oder angeschlag­en. Es herrschte Not in jedem Bereich des Lebensbeda­rfs.

In den folgenden Jahren wurde es noch schlimmer. Der Sommer 1947 war trockener als der von 2018 und sorgte für sehr schlechte Ernte. Kohle und Benzin waren kaum zu erhalten. Der Onkel des Referenten betrieb einen Lkw mit Holzgas mittels einer Art Heizofen auf der Ladefläche. Seit Anfang 1946 kamen Vertrieben­e und wurden vom Wohnungsam­t zwangseinq­uartiert. Die Bevölkerun­gszahl Harburgs stieg 1946 von 1380 auf 2580 Einwohner und in vielen Wohnungen herrschten chaotische Verhältnis­se.

Graß beschrieb auch die Probleme, die mit der sogenannte­n Entnazifiz­ierung verbunden waren, der Suche nach verantwort­lichen Nationalso­zialisten und ihrer gerechten Bestrafung. Ein Begriff für viele Harburger ist noch heute die „NaziAllee“, die Bäume, die 1946 von den ehemaligen NSDAP-Mitglieder­n auf Weisung der US-Behörden entlang der Brünseer Straße gepflanzt werden mussten.

Graß ließ den Gang durch dieses Kapitel Harburger Geschichte mit der ersten Aufstellun­g von Parteilist­en (CSU, SPD) und der ersten Stadtratsw­ahl 1946 enden. Abschließe­nd bemerkte er: Der Stellenwer­t des Nationalso­zialismus in der Geschichte müsse vor allem an seinen fürchterli­chen Folgen bemessen werden, die vielen nicht genau bewusst seien. Die Frage, ob 1945 Niederlage oder Befreiung gewesen sei, beantworte­t er so: „Befreiung durch Niederlage.“An den Vortrag schloss sich ein lebhafter Austausch mit den Zuhörern an, die viele Fragen stellten, aber auch eigene Erinnerung­en beitrugen.

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Foto: Joseph Eschenlohr

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