Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (41)
WLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
enn er sich auch hütete, letzteren Empfindungen nachzugehen und sie seinem Stolz gegenüber rundweg leugnete, litt er doch darunter wie unter einer körperlichen Unpäßlichkeit, die man nicht zu kurieren wagt aus Furcht vor der Entdeckung tieferliegenden Übels. In dem Bemühen, seine Gedanken auf die äußeren Umstände abzulenken, wurden gerade die zur Plage. Ein Sechzehnjähriger, ausgeliefert einer Welt, die er nicht kannte! Wie sollte er sich schützen vor täglichen Fährnissen, vor roher Zumutung, vor dem Gebirge von Schmutz, vor Verbrechen, solchem, das an ihm verübt, und solchem, zu dem er verführt werden konnte? Er setzte die Zukunft aufs Spiel, den Namen, die Ehre, die Gesundheit und schließlich auch das Leben. Da hat man ein Kind mit Sorgsamkeit gehegt, auf eine ihm zukommende Daseinshöhe vorbereitet, mit den überlegtesten Maßregeln der allgemeinen Verlotterung entzogen, auf einmal schlägt es die Hand, die es führt, ist Objekt
polizeilicher Recherchen geworden, vogelfrei, mit dem Stigma des abenteuernden Ausreißers im Lande herumziehend. Unausdenklich und in jeder Weise schlimm. Ich habe meine Pflicht vollauf erfüllt, sagt sich Herr von Andergast, und die Erkenntnis, wie böse ihm in dieser Sache mitgespielt worden, kerbt einen Zug bitterer Verachtung um seine Lippen; ich war ihm ein treuer Berater; für seine Bedürfnisse war gesorgt; ich ließ es an Rücksicht nicht fehlen, an natürlicher Achtung nicht, an Gewährung notwendiger Freiheit nicht. Worüber hatte er sich zu beklagen? In jeder ernsten Schwierigkeit konnte er sich getrost an mich wenden. Anständigerweise mußte er es tun. Ich hätte ihm seine Unreife zum Vorwurf gemacht? Seine Jugend unterdrückt? Ich? Es wird eher so sein, daß ich zuviel Sorgfalt, zuviel Gewissen an eine Niete vergeudet habe. Da ist doch wohl ein sittlicher Fleck im Charakter von der Mutter her. Es war zu befürchten. Ich konnte, bei aller Wachsamkeit, das Gift nicht ganz ausmerzen, die Natur war stärker.
In diesem Wechsel von Anklage und Selbstverteidigung, bohrendem Rückblick und düsterer Voraussicht nahm seine Gemütsverfinsterung unablässig zu. Hätte er einen Freund gehabt (den Fall gesetzt, daß ein Mann wie er der Freundschaft fähig wäre, denn er war es so wenig wie ein Verschnittener zur Zeugung), so wäre er zu dem hingegangen, hätte versucht sich auszusprechen und hätte vielleicht Erleichterung dadurch gefunden. Aber er hatte niemand. Eine solche Person gibt es nicht. Er ist unter der halben Million Menschen dieser Stadt so allein wie auf einem Boot in der Mitte des Ozeans. Erst jetzt fängt er an, es zu bemerken. Wenn er einmal einen Weg antritt, der ihn für eine Stunde von sich selbst erlöst, ungenügend erlöst, weil er von sich selbst ja niemals los kann, so führt ihn der, selten und nächtlicherweile, ganz woanders hin. zwinglichem Widerwillen dagegen wehrt, schraubt es ihn tiefer und tiefer hinein. Unbefohlen ist, was er tut; einen Zweck weigert er sich zu statuieren; gleichwohl bleibt er dabei und wird sich selber zum Rätsel. Er muß Vorwände finden, um sich das Unerklärliche einigermaßen plausibel zu machen, und überredet sich zur Bewunderung der meisterhaften Arbeit, die der Prozeß darstellt, wenn man sich durch den öden Buchstabenwust und Tatsachenschutt durchgewühlt hat. Eisern, folgerichtig fügen sich die Einzelheiten zum Gesamtbild, um schließlich von dem Verdikt gekrönt zu werden. Es gibt da Perlen juristischer Kunst, die zeitliche Entfernung läßt die imponierende Konstruktion erst übersehen, die Festigkeit des Fundaments, die feine Mechanik des inneren Getriebes. Der Fachmann ergötzt sich ästhetisch, auch die eigene Leistung erscheint ihm getragen von einem Schwung, den er, wenn er ehrlich über sich urteilt, heute nicht mehr aufzubringen vermöchte. Es ist ja oft so, daß wir auf unsere Jugendwerke, in die wir verschwenderisch alle Leidenschaft und Erfindung geschüttet haben, mit einer Art von tragischem Selbstneid zurückblicken.
Unleugbar jedoch: einen Schönheitsfehler hatte der Prozeß, das fehlende Geständnis. Zu keiner Zeit des Verfahrens, weder in der Voruntersuchung noch in der Hauptverhandlung, auch später in der Strafanstalt nicht, hatte sich Maurizius zur Tat bekannt. Im Gegenteil, jede Frage nach der Schuld hatte er mit demselben beharrlich schroffen Nein beantwortet. Wer aber dann der Schuldige sein sollte, darüber hatte er ebenso beharrlich schroff geschwiegen. Das konnte natürlich seine Verurteilung nicht hindern, zu fest lag die Beweiskette um ihn, da war kein Entrinnen möglich. Auch der genialste Verteidiger hätte den Ring nicht sprengen können, um wieviel weniger jener mittelmäßige Dr. Volland (inzwischen längst verstorben), den Maurizius zu seinem Rechtsbeistand gewählt hatte. Herr von Andergast entsann sich des Mannes noch ganz gut, ein trockener Silbenstecher, Kleinstädter mit Seehundsschnauzbart und schwarzgerändertem, schiefsitzendem Zwicker auf der knochigen Nase.
Er glaubte keineswegs an die Unschuld seines Klienten, er stürzte sich auf die psychiatrischen Sachverständigen, flüchtete in die formalen Einwände. Einen schwächlicheren Helfer hätte der Angeklagte nicht haben können. Maurizius kümmerte sich auch kaum um ihn, behandelte seine Zwischenreden und Fragen mit verächtlicher Un- geduld und gebot ihm sogar einmal in offener Verhandlung zu schweigen. Leichterdings hätte er einen besseren Advokaten haben können. Warum hatte er es unterlassen? Bei den Akten lag ein Brief des alten Maurizius an den Gerichtshof des Inhalts, Anna Jahn habe darauf gedrungen, daß Leonhart den Dr. Volland nehme, er sei der einzige Anwalt, dem sie vertraue, er habe schon ihrem Vater zufriedenstellend gedient, sei anständig und zuverlässig. Die Zuschrift war damals nicht beachtet worden; man hatte gar nicht nachgeforscht, schließlich war es nicht die Sache des Gerichts, sich um die Qualität des Verteidigers zu kümmern; heute, in der Einsamkeit des Arbeitszimmers, haftete an dem geringen Umstand eine gewisse Zweideutigkeit. Es war zunächst wie ein winziges Loch in einem ungeheuren Gefäß, durch das die wohl- und langverwahrte Flüssigkeit ausrinnt, ohne daß man freilich zu fürchten braucht, das Loch werde sich vergrößern; zunächst; alles schien nietfest. Weder Zweifel noch Unruhe regten sich in Herrn von Andergast. Er drehte die Schreibtischlampe ab und stand eine Weile im Finstern, unschlüssig, ob er in sein Schlafzimmer oder in Etzels Stube gehen sollte. Er wagte nicht, sich zu letzterem zu entschließen. »