Die Kühe sind überall
Seit in einem indischen Bundesstaat das Schlachten der Rinder verboten ist, setzen überlastete Bauern ihre Tiere einfach aus. Sie bevölkern Schulen, Krematorien und Krankenhäuser. Steuererhöhungen sollen die Kuhplage lösen
Neu-Delhi Mitte Januar hätten eigentlich alle Kühe im Stall sein müssen: So jedenfalls hatte es Yogi Adityanath, der Regierungschef des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh, versprochen. Stattdessen sind die Kühe überall: auf Autostraßen, unter Brücken, vor Büros und Regierungsgebäuden. Die streunenden Tiere stören den Verkehr, verursachen Unfälle, verwüsten Felder und fressen Getreide, Zuckerrohr und Kartoffeln im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Indiens auf.
Niemand weiß genau, wie viele herrenlose Tiere nun frei herumspazieren. Schätzungen zufolge gibt es um die 20 Millionen Kühe im Bundesstaat. Nachdem die Regierung ein Schlachtverbot für die für Hindus heiligen Tiere erlassen hat, aber die versprochenen Gnadenhöfe weitgehend fehlen, erlebt der Bundesstaat eine wahre Kuhplage.
Um bei seiner hinduistischen Wählerbasis zu punkten, hatte Regierungschef Adityanath, selbst ein radikaler Hindu-Priester, 2017 ein absolutes Schlachtverbot erlassen. Tiere, die keine Milch geben, lassen Bauern jetzt einfach frei oder binden sie irgendwo fest, um sie von ihren Feldern fernzuhalten.
Die Regierung hat extra eine Kuhsteuer von 0,5 Prozent auf Alkohol und auf Straßenmaut eingeführt, ebenso wie eine einprozentige Abgabe auf den Verkaufserlös von Obst, Gemüse und Getreide auf dem Großmarkt. Mit den Steuereinnahmen sollen „Altersheime“für Kühe gebaut werden, die nicht mehr geschlachtet werden dürfen. Doch die Behörden haben offenbar die schiere Zahl der bedürftigen Tiere unterschätzt. Die neueste Idee ist nun, alle herrenlosen Tiere mit einem Barcode zu versehen und in ungenutzten Gebäuden unterzubringen. Auch sollen Bauern, die ihre Tiere einfach aussetzen, hart bestraft werden.
Anfang der Woche hatte eine Gruppe wütender Bauern 35 Kühe in eine staatliche Schule nahe der Stadt Agra getrieben. Im Städtchen Radha Kund legten die Landwirte den Betrieb des Krematoriums lahm, indem sie 50 Rinder dort ein- sperrten. Auch Krankenhäuser wurden schon von zornigen Landwirten und ihren Kühen heimgesucht. Viele Bauern verbringen ihre Nächte auf Kuhwache, um ihre Felder vor den hungrigen Eindringlingen zu schützen. „Wir können unproduktive Kühe nicht füttern“, er- klärte ein Bauer. Früher habe er 10 000 Rupien (rund 120 Euro) für eine alte Kuh bekommen und habe damit den Kauf einer neuen Kuh finanzieren können.
Das Kuh-Thema ist politisch sehr aufgeladen. Die Frage des Schutzes von Kühen hat an enormer Bedeutung gewonnen, seit Indiens Premierminister Narendra Modi, ein gläubiger Hindu, mit seiner hindunationalistischen Bharatiya Janata Partei 2014 einen haushohen Sieg errang. Viele sehen in dem angeblichen Tierschutz einen Stellvertreterkrieg gegen Minderheiten – besonders Muslime und Dalits, ehemalige Kastenlose. Beide Gruppen essen Rindfleisch und arbeiten in Fleisch- und Lederverarbeitungsindustrien. Laut Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden seit 2015 mindestens zehn Menschen gelyncht, nachdem sie des Verzehrs von Rindfleisch beschuldigt worden waren. Die Opfer waren Muslime oder Dalits. Um die 80 Prozent von Indiens Bevölkerung sind Hindus, etwa 15 Prozent sind Muslime, Christen machen etwa zwei Prozent aus.