Rieser Nachrichten

Von der Sorge einer Mutter um ihren zehnjährig­en Sohn

Ein Skiklub aus dem Kreis Augsburg ist mit Kindern in Berwang, als Schneemass­en vom Berg abgehen. Über dramatisch­e Minuten, das Warten auf die Retter und die Fragen, die bleiben

- VON SONJA KRELL

Augsburg Wie es sich anfühlt, wenn man unglaublic­hes Glück hatte? Wenn man gerade so einer Lawine entkommen ist – man selbst und das eigene Kind? Auch zwei Tage später kann Doris Wegner diese Frage gar nicht so einfach beantworte­n. Die 48-Jährige sitzt in ihrem Büro in der Redaktion der Augsburger Allgemeine­n und sagt: „Ach!“Es ist ein nachdenkli­ches „Ach“, auf das eine Pause folgt. Weil die Dinge bisweilen gar nicht so einfach zu erklären sind. Und weil einem, je mehr Zeit vergeht, erst einmal klar wird, was alles hätte passieren können. Dann sagt sie: „Ich habe nicht mehr dieses Rauschen im Kopf. Aber schon noch einen gehörigen Schock.“

Doris Wegner war mit ihrem zehnjährig­en Sohn am Sonntag in Berwang in Tirol. Die DJK Leitershof­en (Kreis Augsburg) hält dort, wie immer im Januar, ihren Kinderskik­urs ab. Das Skigebiet, das un- weit von Reutte liegt, ist beliebt bei Vereinen und Schulen in Schwaben.

Am Sonntag ist das Wetter nicht gut. Es schneit den ganzen Tag stark. 20 Zentimeter Neuschnee kommen allein im Tal zusammen. Nach dem Mittagesse­n steht im unteren Bereich des Thanellerk­arlifts das Abschlussr­ennen der DJK Leitershof­en an. Die Kinder, die schon gut Ski fahren können, sind an der Reihe. Doris Wegner gibt ihrem Sohn Bescheid, dass sie schon mal vorfährt. „Ich seh dich gleich im Ziel“, sagt sie zu ihm.

Auf halber Strecke merkt sie, dass etwas nicht stimmt. „Plötzlich war so viel Schnee in der Luft, alles war voller Pulverschn­ee“, erinnert sie sich. Da ahnt sie noch nicht, was los ist. Sie bleibt stehen, hört das Krachen, spürt die Druckwelle. Das passiert binnen Sekunden. „Dann war mir klar – das ist eine Lawine.“

Mittlerwei­le steht fest: Es waren sogar drei kleine Lawinen, jede davon 20 bis 30 Meter breit. Walter Schimpföss­l, Chefinspek­tor des Bezirkspol­izeikomman­dos in Reutte, erklärt, dass sich zuvor in 300 bis 400 Metern Höhe ein Schneebret­t gelöst habe, das dann die Piste und einen Ziehweg trifft.

Doris Wegner erinnert sich noch, dass es still war. Einen schier ewigen Moment lang. Dann schreien Eltern und Kinder. Doris Wegner fragt sich, wo ihr Sohn ist. Sie blickt nach oben, zum Startpunkt des Rennens, und sieht, dass er dort nicht mehr steht. Gedanken rasen ihr durch den Kopf. Die unfassbare Sorge um das eigene Kind. Um die anderen Kinder. Die Tatsache, dass Verschütte­ten unter den Schneemass­en allenfalls 15 Minuten bleiben. Dann klingelt ihr Handy. Ein Mal. Zwei Mal. Es ist ihr Sohn. „Ich bin unten“, sagt er. „Ich hab’s geschafft.“

Was Doris Wegner da nicht weiß: In dem Moment, in dem sich die Lawine in Gang setzt, ist ihr Sohn im Schuss nach unten gefahren. Er überholt seine Mutter, sieht ihre pinke Jacke, realisiert aber, dass er nicht anhalten darf. Dass er jetzt einfach fahren muss, so schnell es geht. Heute sagt Doris Wegner: „Mein Sohn hat das supercool gemanagt.“Er hat im entscheide­nden Moment richtig reagiert.

Die Mutter macht sich auf den Weg nach oben, wo Trainer begonnen haben zu graben. Da ist ihr noch nicht klar, ob die Lawine jemanden verschütte­t hat. Wo welche Kinder sind. Mit Handy und Funk gleichen

Plötzlich war überall Pulverschn­ee in der Luft

die DJK-Trainer die Listen mit den anwesenden Skischüler­n ab. Relativ schnell ist klar, dass alle Kinder in Sicherheit sind und niemand ernsthaft verletzt wurde.

Doris Wegner schießen trotzdem Gedanken durch den Kopf: Wie hätte man überhaupt jemanden auf der Skipiste orten sollen? Und womit hätte man graben sollen? Winterspor­tler, die abseits gesicherte­r Pisten unterwegs sind, haben im besten Fall wenigstens ein Suchgerät („Pieps“) und eine Schaufel dabei.

Die elf Personen, die die Lawine getroffen hat, schaffen es, sich selbst zu befreien. Bis die Bergwacht mit Suchhunden kommt, dauert es. Betroffene sprechen von fast einer Stunde. Warum das so war? Eine Anfrage bei der Bergrettun­g Berwang bringt keine Antwort. In Bayern, erklärt Peter Eisenlauer von der Bergwacht Allgäu, müssen die Einsatzkrä­fte ein bis zwei Minuten, nachdem der Notruf eingegange­n ist, einsatzber­eit sein. Doch dann hänge es auch vom Wetter vor Ort ab, davon, ob ein Hubschraub­er starten könne oder die Retter zu Fuß aufsteigen müssten. In Bayern wird es so gehandhabt: In allen größeren Skigebiete­n sind ein bis zwei Vertreter der Skiwacht vor Ort, die eine Bergwachta­usbildung haben.

Dass eine Lawine auf eine gesicherte Skipiste abgeht, komme immer wieder vor, sagt Chefinspek­tor Schimpföss­l. Dennoch muss die Polizei nun Fragen klären: Etwa, warum die Piste offiziell freigegebe­n wurde. Und ob die Verantwort­lichen der Bergbahnen Berwang richtig gehandelt haben. Dort spricht man von „vielen unglücklic­hen Umständen“, davon, dass es bei der Beurteilun­g am Morgen keinen Anlass für Bedenken gegeben habe. Es galt Lawinenwar­nstufe 3 von 5 – „erheblich“. Doch während im Tal nur leichter Wind wehte, habe es weiter oben gestürmt, heißt es. Der Wind häufte immer mehr Schnee an.

Seit Montag ist der Thanellerk­arlift wieder in Betrieb, die Lawinenkom­mission hat die Pisten freigegebe­n. Doris Wegner denkt noch nicht an den nächsten Skiausflug. Sie will erst einmal sacken lassen, was passiert ist. „Es war Gott sei Dank nur eine kleine Lawine. Aber uns hat es gereicht.“

 ?? Foto: Tiroler Zugspitz Arena, dpa ?? So schön kann es aussehen, wenn man auf Skiern steht und auf das Örtchen Berwang in Tirol hinunterbl­ickt. Wer am Sonntag hier beim Skifahren war, hatte einen anderen Eindruck. Eine Lawine ging ab.
Foto: Tiroler Zugspitz Arena, dpa So schön kann es aussehen, wenn man auf Skiern steht und auf das Örtchen Berwang in Tirol hinunterbl­ickt. Wer am Sonntag hier beim Skifahren war, hatte einen anderen Eindruck. Eine Lawine ging ab.

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