Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (42)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Es war ihm zumut, als kehre er von dem Schauplatz des Prozesses auf einem schmalen, finstern Weg wieder in die Gegenwart zurück. Er mußte sich erst besinnen, wo er war. Jene Geschehnisse lagen immerhin achtzehn Jahre dahinten. Er richtete den Blick forschend auf die achtzehn Jahre. Sie umschlossen den inhaltsvollsten Teil seiner Existenz, eine unabsehbare Kette von Tagen. Gleichlauf, Gleichlauf. Achtzehn Jahre Mannesleben; grau geworden; nichts in der Hand. Das Äußere, ja: Amt, Karriere, Stellung; aber was hat man in der Hand? Genau genommen war es eine endlose Zeit. Es gibt eine Art von Langeweile, die sich durch das Leben alternder bürgerlicher Männer schleicht, die verheerend ist wie die gierige Tropenameise; der Gegenstand, den sie heimsucht, bleibt auf der Oberfläche völlig unversehrt, im Innern besteht er nur noch aus mehligem Moder. Ein Ruck, ein Stoß, und der Balken, ja das ganze Gebäude bricht in einen formlosen Haufen zusam-
men. Es ist aber etwas in der endlosen Zeit gewesen, das ihr die steppenartige Eintönigkeit hätte nehmen können, wenn er es beachtet hätte. Dieses Etwas ist verschwunden. Man hat es übersehen, und es ist fort. Während all der unzähligen Tage ist es neben einem aufgewachsen, und wenn man die Vergangenheit nach ihm absucht, weiß man nicht viel mehr von ihm, als was der Hausmeister, der Amtsdiener, der Postbote unter Umständen auch wüßte. Ist er das gewesen, der komische kleine Stöpsel, der (unermeßlich lang mag es her sein, damals war ja noch Sophia im Haus, die Gedanken meiden die Tatsache) mit sinnlosem Jauchzen in der Kinderstube hin und her rennt? Das Bild erhebt sich wie aus faulem Wasser, wobei sich irisierende Ringe bilden; welch ein wunderlicher Automatismus des Gehirns, warum produziert es gerade dieses Bild unter den Tausenden, die möglich wären? Der Bub ist nicht älter als drei Jahre. Er ist nackt, unmittelbar vor dem abendli- chen Bad, und läuft jubelnd seinem blauen Gummiball nach. Wie rosig das Fleisch ist, wie tolpatschig die winzigen Füße auf den Boden stapfen, geradeaus gerichtet wie bei einem kleinen Bären, was für ein unfaßliches Funkeln in den Augen, als sei das kniehohe Menschlein betrunken von seinem Lebensentzücken: Spiel mit mir, Papa; ich such dich! Warum magst du nicht? Gehst du schon wieder fort? Bleib doch da, weißt du was? Du bist die große Eisenbahn, ich bin der Schaffner; sogleich pfeift und prustet er, schreit: einsteigen, verwandelt sich frenetisch und restlos in das, was er vorstellt: Lokomotive, Waggons, Reisende, alles in einem. Der Vater hat nur einen zerstreuten Blick auf die Miniaturzauberwelt und das strahlende Geschöpf zu seinen Füßen, er schließt die Tür hinter sich und begibt sich wieder in den Bereich der ernsthaften Verrichtung.
Es wurde nach und nach angreifend lästig, wie sich die Bilder und Gesichter, die sich aus der Beschäftigung mit dem Prozeß ergaben, mit denen aus Etzels Kindheit vermengten. Es war, als hätte er eines jener Opiate eingenommen, die den Willen aufheben und den Geist in zuchtlose Phantasien stürzen. Trotzdem war er sehr wohl imstande, logisch zu überlegen. Er hatte nur fortwährend das Gefühl, wie wenn diese Überlegung an einer unsichtbaren Wand zerschellte, hinter der sich etwas Unerfahrbares zutrug. Eines Nachts lag er im Bett und schaute, mit unter den Nacken geschobenen Händen, starr in die Luft. Bei Männern von der Art des Herrn von Andergast hat das Imbettliegen etwas eigentümlich Widersinniges. Es gibt Figuren, zum Beispiel steinerne und bronzene Denkmalsfiguren, die man sich beim besten Willen nur aufrecht denken kann; ihre horizontale Lage erinnert sofort an Unordnung und Zerstörung. Ein unangenehmes Körpergefühl überkam ihn, er spürte die Zehen und den Rücken, er war so schmerzhaft umgrenzt auf einmal. Sein Gedanke war: es stimmt was nicht in dem Prozeß, aber was? An irgendeiner Stelle ist das Gefüge defekt, aber wo? Er überging den Verlauf. Er fing mit dem Anfang an. Die Ehe zwischen Leonhart und Elli Maurizius wurde ihm auf einmal bis zur äußersten Sichtbarkeit gegenwärtig. Das war neu und in gewissem Sinn störend. Man hatte stets die Ansicht vertreten, daß eine zu große Lebendigkeit der Auffassung das sachliche Urteil trübe. Jede Art von Phantasiebeteiligung war verpönt, und schon die Neigung dazu bei andern erweckte Mißtrauen. Niemals in seiner ganzen Praxis war es ihm vorgekom- men, daß er die Dinge und Personen sah. War vielleicht jener quasi-opiumisierte Zustand daran schuld, durch den er auch gezwungen war, das vergangene Leben seines Kindes zu sehen, statt, wie er getan, es bloß zu wissen? Steckte, hier wie dort, hinter der gewußten Wirklichkeit eine andere, geheimnisvollere und zugleich wahrere? Jedenfalls war es nicht uninteressant, die Entwicklung der Vorgänge in dieser ungewohnten Weise zu verfolgen. Indem er regungslos zum Plafond des Schlafzimmers hinaufschaute, rollten sie vor seinen Augen ab wie ein Film.
Elli Hensolt hatte nicht leichten Herzens eingewilligt, die Frau des jungen Maurizius zu werden. Dreimal hat sie seine Werbung ausgeschlagen, ehe sie sich endlich entschloß. Sie sagte: Ich bin eine reife Frau, morgen werd ich alt sein, Sie sind ein Jüngling und werden noch zwanzig Jahre jung sein, wohin soll das führen? Was reizt ihn an ihr? Ist es eben diese Reife? Die Beruhigung, die von ihr ausgeht? Die Festigkeit des Charakters, die man ihr nachrühmt und die in allen ihren Handlungen zutage tritt? Hat er genug von flüchtigen Abenteuern, sehnt er sich mehr nach Führung als nach Verführung, mehr nach Ordnung als nach wechselnden Leidenschaften? Ist es, mit seinen vierund- zwanzig Jahren, schon die Flucht ins bürgerliche Heim? Neben dem allem spielt der Umstand, daß Elli Hensolt eine vermögende Witwe ist, sicherlich eine Rolle, obschon er ihren Reichtum, wie sich später herausstellt, bedeutend überschätzt; er glaubt sie im Besitz von mindestens zweimal hunderttausend Mark, aber der verstorbene Hensolt hat ihr nur die Hälfte seines Vermögens testiert, die andere Hälfte ist einer wohltätigen Stiftung zugeflossen, der gesamte Nachlaß hat nicht mehr als hundertsechzigtausend Mark betragen. Das erfährt Leonhart erst wenige Tage vor der Hochzeit. Ob er darüber Enttäuschung empfunden oder sogar gezeigt hat, weiß niemand; er kann keinesfalls mehr zurück. Im übrigen ist Elli die Frau nicht, die man nimmt oder stehenläßt, je nachdem. Sie hat ihre Würde, sie ist noch stattlich; sieht man sie auf der Straße, im Salon, so gibt man ihr höchstens dreißig Jahre; sie weiß sich anzuziehen, hat ausgezeichnete Manieren, und wenn ihr auch Schönheit mangelt, fesselnd wirkt sie trotzdem; man kann sich gut denken, daß sie einen Mann wie diesen Leonhart Maurizius nicht gleichgültig läßt.
Ihr ist es von vornherein klar, was er in ihr sucht und braucht. Er hat sich zu Rande gewirtschaftet.
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