Heile Familie, zerrissene Persönlichkeiten
Das Schauspiel „Wunschkinder“ist eine vielschichtige Gesellschaftskritik. Ein starkes Ensemble verleiht der Aufführung besondere Wucht
Nördlingen „Die erste Hälfte unseres Lebens wird von unseren Eltern verdorben – und die zweite Hälfte von unseren Kindern“, formulierte einst der amerikanische Bürgerrechtler Clarence Darrow ironisch. Vom immerwährenden Konflikt der Generationen handelt auch das Schauspiel „Wunschkinder“der Autoren Lutz Hübner und Sarah Nemitz, das im Rahmen des Kulturprogramms der Stadt Nördlingen im Klösterle zur Aufführung kam.
Die wohl nicht allzu seltene Ausgangskonstellation suggeriert eine heile Welt: Marc (Lukas Schöttler), einziges Kind eines gut situierten Ehepaars, hat vor einigen Monaten sein Abi bestanden. Doch seitdem hängt er im „Hotel Mama“ab, sein Tagesrhythmus besteht aus „Party, Schlafen, Kiffen und Kühlschrank leerfressen“. Während Mutter Bettine (Ulla Wagener) noch Geduld aufbringt, ist Vater Gerd (Martin Lindow) ob der Lethargie und Planlosigkeit des Filius außer sich – fin- det aber kein Gehör: „Da kann ich auch einen Pudding nach dem Sinn des Lebens fragen.“Selbst die verständnisvolle Katrin (Claudia Wenzel) findet kaum Zugang zu ihrem Neffen.
Als Marc Selma (Josepha Grünberg) kennenlernt, keimt Hoffnung auf. Denn die ist dessen glatter Gegenentwurf: aus prekären Verhältnissen, aber zielstrebig, fleißig und arbeitsam. Zudem kümmert sie sich noch um ihre traumatisierte und depressive Mutter Heidrun (Katharina Heyer). Die beiden wollen sogar zusammenziehen, doch dann wird Selma plötzlich schwanger. Anhand der teilweise hektischen, hysterischen und panikartigen Reaktionen zeichnen die Autoren im Verlauf des Stücks die Charakterprofile der einzelnen Personen nach, die sich in all ihrer Hilflosigkeit, Verlorenheit und inneren Zerrissenheit erstaunlich ähnlich sind.
Es ist eine sehr moderne Inszenierung, die Regisseur Volker Hesse für die Konzertdirektion Landgraf umgesetzt hat. Das spartanische Bühnenbild (Rolf Spahn) besteht aus einer Art Tribüne aus Stahlgittern, auf deren Stufen sich die gesamte Handlung abspielt. Auch bei den Requisiten ist ein minimalistischer Ansatz gewählt – symbolisch für Armut, Krankheit und Verzweiflung werden Kissen und Decken über die Gitterroste geschleift. Die meiste Zeit stehen alle Figuren auf der Bühne, auch wenn diese kei- ne dialogische Funktion haben - allein dies verleiht ihnen eine stetige dramaturgische Präsenz.
„Wunschkinder“ist eine vielschichtige und schonungslose Gesellschaftskritik, in der das AutorenDuo viele Fragen anreißt: Wo liegt die Grenze zwischen elterlicher Fürsorge und übergriffiger Einmischung? Wie können stark emotionsbehaftete Konflikte ausgetragen werden, ohne einander zu verletzen?
Bei der Beantwortung setzt die Regie auf starke, einprägsame Bilder: Gerd und Marc brüllen sich wie in einem archaischen Zweikampf mit entblößten Oberkörpern lautstark an – ohne sich dabei anzusehen. Und die ansonsten besonnene Bettine kann sich nur mit einem überbordenden verbalen Ausbruch gegen Selmas Endlosschleife an Argumenten durchsetzen.
Aus dem durchwegs spielstarken sechsköpfigen Ensemble, das der Aufführung eine enorme Wucht verleiht, ist besonders Martin Lindow hervorzuheben, der mit Robert de Niro-Stimme vom sarkastischen Vater zum wütenden Berserker mutiert.
Und bei der furiosen Schlusssequenz wird Claudia Wenzel für ihre schrille Nina Hagen-Nummer („ist ja alles so schön bunt hier“) bejubelt. Auch wenn es im Stück am Ende nur Verlierer gibt – die rund 400 Besucher spenden begeisterten Applaus und entlassen die Schauspieler erst nach mehreren Vorhängen.
Spielstarkes, sechsköpfiges Ensemble auf der Bühne