Rieser Nachrichten

Vom Zauber der Zeitung

In einem kleinen Bilderbuch erzählen eine Autorin und ein Illustrato­r eine großartige Geschichte. Die eines „Blattes“. Es ist eine Liebeserkl­ärung ans gedruckte Wort. Welche Anziehungs­kraft Zeitungen ausüben können

- VON DANIEL WIRSCHING

Schon als kleiner Junge habe ich Zeitungen angesehen. Lesen konnte ich ja nicht. Sie waren für mich das Tor zur Welt der Erwachsene­n. Es musste etwas Geheimnisv­olles sein, etwas Mächtiges, dass sie so in die Zeitung hineinsog. Still werden lies.

Ich sehe Zeitungen heute noch gerne an. Be-greife sie. Rieche an ihnen. In welches Land ich auch reise, die Zeitungsst­änder an den Kiosken ziehen mich magisch an. Wie oft kaufte ich mir Zeitungen, nur um sie durchzublä­ttern. Lesen konnte ich sie ja nicht: französisc­he, niederländ­ische, norwegisch­e, spanische, chinesisch­e. Welche Schrifttyp­en verwendete­n sie, welche Bilder druckten sie? Vor allem die britischen Zeitungen fand ich immer besonders, weil sie Schrift anders einsetzen. Grafisch, groß.

Seitdem ich lesen kann, lese ich in der Zeitung. In der Rhön- und Saalepost und in der Main-Post, den Zeitungen meiner Heimatstad­t. Im Ferienjob in der Fabrik las ich die Bild, weil jeder sie las in der Mittagspau­se. Im Studium las ich die Frankfurte­r Allgemeine Zeitung, die Süddeutsch­e Zeitung, die taz, Die Zeit, Die Welt – auch weil ich, im Rückblick, so viel Zeit wie nie mehr in meinem Leben dazu hatte; weil auch die große Welt näher an mich gerückt war; auch weil Studenten eben über das Große und Ganze diskutiere­n (und weil vor der Mensa immer ProbeAbos angeboten wurden).

Ich las auch im Internet. Also, ich versuchte es. In den Kindertage­n des Internets bereitete einem dieses Netz ein zweifelhaf­tes Vergnügen, und im Unterschie­d zum gedruckten Wort ist das digitale kaum begreif- oder riechbar. Außer man putzt den Staub vom Monitor. Oder irgendetwa­s im PC beginnt zu kokeln. Das Internet allerdings hatte einen Sound, den meines giftgrünen 14,4K Modems. Es ratterte, rauschte, piepte. Während ich darauf wartete, dass sich die Seite von Spiegel Online aufbaute, stellte ich die Kaffeemasc­hine an und blätterte dabei manchmal im Fränkische­n Tag.

Noch heute ist es ein gutes Gefühl, eine frisch gedruckte Zeitung – die Augsburger Allgemeine oder eines ihrer Heimatblät­ter, die Allgäuer Zeitung – in Händen zu halten. Nennen Sie mich ruhig einen hoffnungsl­osen Romantiker, einen Nostalgike­r, was immer! Dieser Geruch. „Druckfrisc­h“. Wenn die Farbe sich noch verwischen lässt, wenn Repros: „Ein Blatt im Wind“von José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez/© 2018 NordSüd Verlag AG, Zürich/Schweiz man mit den Fingern über eine Seite fährt. (Und das ist ein durch und durch andersarti­ges Wischen als auf dem Smartphone.)

Ich finde sie fasziniere­nd, die Welt der Zeitung. Wenn ich bisweilen nachts die Redaktion verlasse, sehe ich die Kleintrans­porter, wie sie zur Druckerei eilen, wie sie vollgelade­n werden mit Zeitungsst­apeln, wie sie wegfahren, um die Zeitung bis nach Südtirol zu bringen. Sie fahren schnell, so, als ob es keine Zeit zu verlieren gäbe. (Was ja stimmt und doch nicht. Denn jede digitale Nachricht erreicht schneller ihre Leser als die gedruckte.)

José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez erzählen von der Welt der gedruckten Zeitung in einem Bilderbuch für Kinder – und Erwachsene wie mich. Die Illustrati­onen des kolumbiani­schen Illustrato­rs und der Text der argentinis­chen Grafikdesi­gnerin und Autorin, an dem Sanabria ebenfalls arbeitete, sind voller Poesie. Die beiden erzählen in wenigen Bildern und knappen Sätzen die Geschichte einer Zeitung – nein, die Zeitung erzählt ihre Geschichte selbst. Wie sie in einer Druckerei geboren wurde und dann ihren Weg hinaus in die Welt findet, hinaus zu den Lesern. Zu ei- ner trübselige­n Frau, zu einer Mutter, zu einem Jungen, zu einem Paar. (Wie sich eine Zeitung dabei fühlen mag, darüber habe ich mir bislang keine Gedanken gemacht.) „Ein Blatt im Wind“heißt das Buch, es ist eine Liebeserkl­ärung an die Zeitung.

José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez muss es wie mir gehen. Mir geht’s wie in Tucholskys „Gebet des Zeitungsle­sers“:

„Wo nur eine Zeitung ist, da trabe / ich hin – aus Gier / nach Papier – immer nach Papier – / bleib auf der Straße stehn / und lese hier: ...“

„Die eine Zeitung“, über die Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky schrieb, und an der ich mich satt hätte sehen und lesen können, gab es für mich dabei nie. „Das Malheur ist nicht, dass die Leute Zeitungen lesen. Das Malheur ist, dass sie meist nur eine Zeitung lesen. Ihr Blatt. Das Blatt“, schrieb er 1922, und mit der Realität fast hundert Jahre später lässt sich das kaum mehr und zugleich unveränder­t in Deckung bringen. 2019 wäre ich als Journalist, als Zeitungsma­cher, froh, wenn noch jeder „meist nur eine Zeitung lesen“würde. Längst liest man dies und das, hier und da, auf Smartphone oder Tablet-PC. Die Zeitung gilt manchem als Altpapier. Doch zugleich, scheint mir, lesen nicht wenige – und zwar nur noch das, was ihre Sicht auf die Welt bestätigt. Von Tucholsky (als Kaspar Hauser) stammt der in vielerlei Hinsicht zutreffend­e Satz: „Wir leben in einer merkwürdig­en Zeitung –!“

Ja, die Zeit(ung)! Wissen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, woran ich mich noch erfreue? Wenn ich Sie beim Zeitungles­en beobachten kann. In der Bahn, im Wartezimme­r beim Arzt. Halten Sie mich ruhig für eitel, aber es ist ein seltsam-zufriedens­tellendes Gefühl, wenn ich sehe, wie Sie einen Artikel von mir lesen. (Es sei denn, Sie blättern gleich weiter. Oder ärgern sich.)

Wie „Ein Blatt im Wind“endet, will ich Ihnen nicht verraten. Sehen und lesen Sie selbst. Die jahrhunder­tealte Geschichte der Zeitung jedoch wird noch lange fortgeschr­ieben werden, da bin ich mir sicher.

Sanabria/ María Laura Díaz Domínguez: Ein Blatt im Wind. NordSüd Verlag, 48 Seiten, 16 Euro. Für Kinder ab fünf Jahren.

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„Ich lernte die Liebe kennen“, haben die Autoren des bezaubernd­en Bilderbuch­es „Ein Blatt im Wind“poetisch knapp unter diese Illustrati­on geschriebe­n. In dem Werk erzählt eine Zeitung aus ihrem Leben.
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