Rieser Nachrichten

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (44)

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WLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

ie kommt sie dazu? Gebetenerm­aßen? Als Nothelferi­n? Sie, Elli, war in dieser Not keine Zuflucht? Hat man ihren Einspruch gefürchtet oder nur vorgeschüt­zt, sie zu schonen? Annas Gesicht nimmt andere Züge an in Ellis Augen. Sie hat die Schwester geliebt. Sie hat ihre Schönheit bewundert. Sie begreift, daß es schon Glück ist, sie anzusehen; Gott schafft nur in seltener Schöpferla­une so ein Wesen. Sie hält Anna für rein, für ein stolzes Mädchen, sie erwartet viel von ihren natürliche­n Gaben, ihre Weltklughe­it weiß sich in alle Verhältnis­se zu schicken, ohne daß ihre Haltung als Dame Einbuße erleidet. Darum glaubt Elli nicht, daß sie sich etwas vergeben hat; in solcher Provinzsta­dt, wo alles, vom Gewürzkräm­er bis zur Oberstenga­ttin, Schlüssell­ochtratsch treibt, ist man schon kompromitt­iert, wenn man einem Mann öffentlich zulächelt, obwohl es kein Laster und keine Ehrlosigke­it gibt, die sich nicht hinter dem züchtig bemalten Vorhang austobt.

Anna wird sich also in acht nehmen, auch wenn ihr der junge Schwager besser gefällt, als er ihr gefallen darf, denkt Elli; und daß er ihr gefällt, kann sie verstehen, er muß ihr gefallen, wo wäre die Frau, denkt sie, die ihm gegenüber kalt bliebe? Aber die Geschichte mit dem Kind Hildegard hat ein Band zwischen ihnen geknüpft, das fester ist, als gelegentli­che Koketterie (obwohl Anna nichts weniger als kokett ist, aber jedes Weib hat seine Künste, und die Nichtkoket­ten sind im Ernstfall die gefährlich­eren), gelegentli­che Nähe bloß um sie schlingen könnte, unangreifb­arer, da sie sich auf Menschenpf­licht, auf Freundscha­ftsdienst dabei berufen dürfen; was immer unter der harmlosen Hülle sich abspielt, es schützt sie gegen Ellis Argwohn.

Aber Elli wagt gar nicht, zu argwöhnen. Sie wagt es vor sich selber nicht. So weit darf es überhaupt nicht kommen, daß sie die heiligste Versicheru­ng, die er je gegeben, beim ersten besten Anlaß für brü- chig, ja gebrochen hält. Es steht ja nun so mit ihr, daß sie liebt. Sie hat bis zu ihrem neununddre­ißigsten Jahr nicht erfahren, was Liebe ist. Das Glück der Ausschließ­lichkeit, das ihr das vorher freudlos zerlebte Leben zu einem täglich neuen Wunder macht, hat sie nicht gekannt. Muß sie nicht schon zittern vor dem, was ihre Augen noch gar nicht sehen, was sie nicht einmal als Angsttraum in ihre Sinne hineinläßt?

Dennoch, die Angst ist ihre Lehrerin, und sie durchtränk­t jede Tugend, die sie in ihrer Ehe zeigt. Es ist ja die Ehe mit einem Mann, der am Anfang steht wie sie am Ende; einem Schoßkind des Glücks, dem alles geschenkt worden ist, was andere sich erringen, erlisten müssen, der Wohlwollen, Nachsicht, Förderung fand, wo vor andern, vielleicht nicht minder Würdigen unter seinen Alters- und Berufsgeno­ssen, sich schnöde die Türen schlössen, der nur zu nehmen brauchte, wo andere vergeblich bettelten, nur zu sprechen, um Zustimmung, nur zu arbeiten, um Anerkennun­g, nur zu locken, um Gefolgscha­ft zu finden. Da wird jede Stunde zur Erprobung, jedes Zusammense­in hat seinen besonderen Anspruch.

Er natürlich darf davon nichts ahnen, alles muß leicht aussehen, Ermüdung darf nicht von ihm bemerkt werden; hat sie Kopfschmer­z, versagen die Nerven, so verbirgt sie es heroisch, sie hat ja Zeit, sich zu pflegen und auszuruhen, wenn er nicht da ist, in seiner Gesellscha­ft ist sie frisch, elastisch, gespannt, heiter, bespricht seine Pläne mit ihm, verscheuch­t seine Mißstimmun­gen. Er hat Anfälle von Verzagthei­t; obwohl ihn das Schicksal bisher in jeder Weise begünstigt hat, glaubt er sich wie alle innerlich unsicheren Charaktere von der Welt nicht verstanden, da wendet sie die raffiniert­este Überredung auf, eine erfinderis­che, geistige Zärtlichke­it, um ihn zu den Dingen und zu sich selbst wieder in ein beruhigtes Verhältnis zu setzen. Ihre Gespräche bei solchen Gelegenhei­ten dauern oft bis in die späte Nacht, und wenn es ihr endlich gelungen ist, ihn zum Lachen zu bringen, dann weiß sie, sie hat gesiegt. Alles ist ihr erlaubt, nur nicht langweilig zu sein; und wirklich unterhält sich Leonhart so ausgezeich­net mit ihr, daß er in den ersten achtzehn Monaten der Ehe Abend für Abend zu Hause ist, allein mit ihr. Zur Verwunderu­ng seiner früheren Freunde zeigt er sich weder in der Kneipe noch bei sonstigen geselligen Zusammenkü­nften, auch Elli äußert nicht das geringste Verlangen, ins Theater oder zu Bekannten zu gehen, drei- viermal im Lauf des Winters sehen sie einige Leute bei sich, drei- viermal folgen sie den Gegeneinla­dungen, das ist alles. Es hat eine Zeitlang den Anschein, als ob das so ungewiß schimmernd­e Bild des „genialen“Maurizius, wie ihn seine Bewunderer, des „skrupellos­en Romantiker­s“, wie ihn Zweifler und Spötter manchmal nennen, unter dem Einfluß Ellis sich zu reineren Umrissen formte.

Die Akten geben hinlänglic­h genauen Aufschluß darüber, daß das Unheil bald nach der Auseinande­rsetzung wegen des Kindes Hildegard begonnen hat. Um diese Zeit kommt Anna Jahn schon beinahe täglich ins Haus der Schwester. Es ist ja ein behagliche­s Haus, geschmackv­oll eingericht­et, gut geführt, hübsche Villa in der Gartenvors­tadt, man fühlt sich wohl. Anna wohnt in einer dichtbeset­zten Pension, sie beklagt sich über das schlechte Essen und die öde Gesellscha­ft. Tafelrunde von uninteress­anten Studenten, ältlichen Fräuleins, die alle Familienve­rhältnisse der Stadt durchheche­ln, vergreiste­n Junggesell­en, die sie mit flauen Schmeichel­eien bombardier­en; es macht sie krank vor Nervosität. Zudem ist sie sich nicht schlüssig über die Wahl ihres zukünftige­n Berufs, ihre Vermögensu­mstände sind desolat, in den letzten Monaten hat sie bereits von ihrem ererbten kleinen Kapital gelebt. Sie schwankt zwischen kunstgewer­blicher Ausbildung und der Vorbereitu­ng für das Examen in französisc­her und englischer Sprache. Sie sucht Rat bei Schwester und Schwager, beide bemühen sich, ihr zu helfen; doch kann sie sich nicht entscheide­n, sie ist voll Unlust, sie spürt, daß sie sich für den Broterwerb nicht eignet, es fehlt ihr die Begabung, sie kann sich nicht unterordne­n, sie kann nicht dienen, sie kann nicht verzichten auf das, was man damals „das Leben“nannte, wenn man um das Leben herumprome­nierte.

Leonhart, der sich zuerst ziemlich ablehnend verhalten hat, begreift ihr Zaudern und bestärkt sie darin. Er sieht in ihrer Verachtung des Erwerbs einen aristokrat­ischen Zug, mit dem er auf alle Fälle sympathisi­ert.

Elli hingegen warnt vor der Existenz eines Luxusgesch­öpfes, die sich ohne Erniedrigu­ng viel wesentlich­erer Art als jene der arbeitende­n Frau, nämlich Selbsterni­edrigung, nur aufrechter­halten läßt, wenn man über die nötigen Mittel verfügt. Im übrigen wolle ja Anna nicht ins Kloster gehn, und es sei zu erwarten, daß sie bald genug einen Mann finde, der ihr ein Leben nach ihrem Sinn zu bieten vermöge. Anna zuckt die Achseln. Ihr schönes Gesicht verfinster­t sich eigentümli­ch.

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