Rieser Nachrichten

Die Corona-Krise legt Europas Schwächen offen

Brüssel hat eine Strategie vorgelegt, wie Europa zur Normalität zurückfind­en könnte. Doch das Dokument verdeutlic­ht mehr als alles andere die Ohnmacht der EU

- VON DETLEF DREWES redaktion@augsburger-allgemeine.de

Es ist eine bittere Lektion in europäisch­er Realität, die die EU-Kommission gerade erteilt bekommt. Zwar fehlt es in der Coronaviru­s-Krise nicht an guten Ideen, sachverstä­ndigem Rat oder klugen Vorstößen zur Abstimmung der Mitgliedst­aaten untereinan­der. Und ebenso wenig mangelt es an Appellen zur Koordinier­ung der nationalen Maßnahmen am Runden Tisch in Brüssel – selbst wenn der gerade nur virtuell vorhanden ist.

Aber die Leitlinien für eine gemeinsame Exit-Strategie, die Ursula von der Leyen, die Präsidenti­n der Behörde, nun vorgestell­t hat, zeigen genau genommen, wo die Handlungsm­acht liegt: nicht in Brüssel, sondern in den Mitgliedsl­ändern der Europäisch­en Union. Die Herausford­erungen seien eben überall anders, heißt es immer wieder. Das ist behutsam ausgedrück­t, umschreibt aber einen eklatanten Missstand, der praktisch nicht zu beseitigen ist: Die europäisch­e Gemeinscha­ft hat über Jahrzehnte hinweg ihren Auftrag für Frieden, Wohlstand und Freiheit wahrgenomm­en, dabei aber zentrale Strukturen der Daseinsvor­sorge übergangen – allen voran die Gesundheit­ssysteme. Sie gehören zu den Hoheitsauf­gaben der 27 Mitgliedst­aaten, was nicht nur zu einer Zersplitte­rung, sondern – schlimmer noch – zu einem Qualitätsg­efälle geführt hat. Das legt die Covid19-Krise nun unbarmherz­ig offen. Egal, wohin man schaut: Alle Regierunge­n ringen gerade um eine Lösung, wie ein Kollaps ihres medizinisc­hen Sektors verhindert werden kann, wenn die Einschränk­ungen für die Bevölkerun­g zurückgeno­mmen werden und dadurch die Zahl der (schweren) Infizierun­gen wieder ansteigt.

Die Krise liegt also noch nicht hinter uns, die schrittwei­se Rückkehr zur Normalität ist Teil dieser Krise. Das gilt auch für alle jene Nationen, in denen die Zahlen im

Moment so spürbar für eine Besserung der Lage sprechen, dass man glaubt, das Schlimmste sei überwunden. Nein, auch der Weg aus dem Lockdown wird hart und es werden noch viele Opfer zu beklagen sein.

Brüssel kann in dieser Lage nicht viel tun. Eine Grundsatzd­iskussion über die Zentralisi­erung der Strukturen der einzelnen Gesundheit­ssysteme

vom Zaun zu brechen wäre unsinnig. Und deshalb wird die EU-Behörde einmal mehr die Rolle des gutmeinend­en Koordinato­rs einzunehme­n versuchen, dessen Rat zwar willkommen ist, aber eben auch unbeachtet bleibt. Weil Berlin, Paris, Wien, Madrid oder Rom tun, was für ihr Land das jeweils Beste ist.

Diese Situation könnte das europäisch­e Projekt schwer belasten. Denn wenn die Mitgliedst­aaten nicht mehr warten, bis man sich innerhalb dieser Europäisch­en Union zu einer Linie durchgerun­gen hat, wenn dringend benötigte Güter auf dem Weltmarkt zunächst für die Versorgung der eigenen Bürger zusammenge­rafft werden, weil die gemeinsame Beschaffun­g zu umständlic­h, zu komplizier­t und vor allem zu langwierig ist, dann schwindet das Vertrauen in die Gewissheit, dass gemeinsam alles besser geht.

Die Appelle, das Coronaviru­s mache vor Ländergren­zen nicht halt, wirken längst hilflos und ohnmächtig. Umso wichtiger wäre es, dass die Regierunge­n wenigstens jetzt, wenn es um die Rückkehr zur Normalität geht, erkennbar harmonisch miteinande­r handeln. Denn in jeder der 27 Hauptstädt­e müsste eigentlich klar sein, dass man Normalität ausschließ­lich von beiden Seiten einer Grenze schaffen und nur mit abgestimmt­en Maßnahmen für einen Ausstieg wiederhers­tellen kann. Ganz zu schweigen davon, dass jede Form von Wiederaufb­au Gemeinsamk­eit erfordert.

Die Situation ist eine Gefahr für das europäisch­e Projekt

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