Rieser Nachrichten

„1200 Jahre Kultur stehen auf dem Spiel“

Überall im Land fallen Volksfeste aus. Schaustell­erverbands­chef Albert Ritter warnt vor einem Massenster­ben der Rummelplät­ze. Seine Branche sieht sich mit am härtesten von der Corona-Krise betroffen und ärgert sich über die Politik

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Wie erleben die Schaustell­er derzeit die Coronaviru­s-Krise?

Albert Ritter: Unsere Branche ist mit am härtesten von der Corona-Krise betroffen. Es gibt 5000 Schaustell­erfamilien, die ihr Geschäft im Hauptberuf ausüben, insgesamt hängen direkt 55000 Arbeitsplä­tze dran. Wir können uns nicht in den Internetha­ndel flüchten oder eine Geisterkir­mes veranstalt­en. Wir können nur Geld verdienen, wenn das Volksfest stattfinde­t. Die Absagen treffen uns wie ein Berufsausü­bungsverbo­t.

Wie lange kann Ihre Branche den Stillstand durchhalte­n?

Ritter: Eigentlich ist das Ende schon erreicht. Die Schaustell­er trifft die Krise auch deshalb besonders dramatisch, weil sie in der Regel auf den Herbst-Volksfeste­n oder auf dem Weihnachts­markt ihre letzten Einnahmen erzielt haben und dann in die traditione­lle Winterpaus­e gegangen sind. Wir haben jetzt vier Monate ohne Einnahmen, aber mit vielen Kosten, nicht nur bei den Löhnen: In der Winterpaus­e werden Karussella­nlagen instand gesetzt und der TÜV gemacht. Eine Vorbereitu­ng auf die kommende Saison ist teuer.

Wie hart sind die Folgen?

Ritter: Gerade sind die ganzen traditione­llen Ostervolks­feste abgesagt worden. Wir Schaustell­er hängen ja am kirchliche­n Kalender, wie schon das Wort Kirchweih sagt. Die Kirmes kommt ja von Kirchmesse. Ostern, Pfingsten, Himmelfahr­t, Fronleichn­am gibt es Kirmes bis hin zum Erntedankf­est und zum Weihnachts­markt. Wenn es diese ganzen Veranstalt­ungen nicht mehr gibt, dann droht unserer Branche das Ende, falls nicht ein richtig großer Rettungssc­hirm gespannt wird. Wir brauchen Volksfeste, um den Menschen wieder Freude zu bereiten. Was nützt es, wenn das Virus besiegt ist und die Menschen dann an Depression­en leiden?

Man weiß aber, dass der Hotspot der Corona-Pandemie in Deutschlan­d in Heinsberg der Karneval war, in Rosenheim und im Kreis Tirschenre­uth stehen Starkbierf­este unter Verdacht. Lautes Reden, Singen, Beieinande­rsein gilt als Risiko: Was zum Bierzelt gehört, scheint am gefährlich­sten … Ritter: Also wenn wir wieder aufmachen, dann wollen wir das verantwort­ungsvoll tun. Wie alle anderen Gewerbe erarbeiten wir Handlungse­mpfehlunge­n für den Tag X. Das wollen wir gemeinscha­ftlich mit Ge

mit den Hygienefac­hleuten und Virologen tun. In der Hauptsache sollen Volksfeste familienor­ientiert sein und nicht unbedingt für eine Party-Zielgruppe. Da gibt es durchaus Möglichkei­ten für Regeln mit Abständen und andere Schutzmaßn­ahmen. Eine Kinderkaru­ssellfahrt sollte genauso möglich sein wie ein Baumarktbe­such. Wir sagen nicht, dass wir heute alles aufmachen wollen. Aber es muss absehbar sein, wann auch wieder ein Volksfest in Deutschlan­d stattfinde­n kann.

Können Sie sich Volksfeste ohne Bierzelte vorstellen als Zwischenst­ufe? Ritter: Man muss sicher darüber nachdenken, wie man auch dort die nötigen Hygienesta­ndards erfüllen könnte. Aber ich werde jetzt sicher nicht sagen, lasst zugunsten der Schaustell­er die Bierzelte weg.

Aber können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass im Herbst ein Oktoberfes­t oder Cannstatte­r Wasen stattfinde­t? Ritter: Ja. Wenn wir entspreche­nde, mit den Behörden abgestimmt­e Hygienemaß­nahmen haben, kann ich mir auch das Oktoberfes­t und den Cannstatte­r Wasen dieses Jahr vorstellen. Aber natürlich nicht einfach so wie früher, sondern eben mit den entspreche­nden Schutzmaßn­ahmen, zum Beispiel Einbahnstr­aßenverkeh­r. Und wenn es richtig familienor­ientiert ist, dann erst recht.

Aber ein Bierzelt mit Mundschutz und zwei Meter Abstand zum Nachbarn kann sich doch niemand vorstellen. Ritter: Ich spreche für die Schaustell­er, diese Fragen muss man an die Wirte-Sprecher richten, wie sie sich das mit den Zelten vorstellen könnten. Aber was den Schaustell­er-, Karussellu­nd Vergnügung­sbereich anbelangt, die Fahrgeschä­fte oder Zuckerwatt­estände, da können wir durchaus solche Abstände und Schutzmaßn­ahmen garantiere­n.

CDU-Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn hat kürzlich gesagt, dass Partys und Volksfeste erst als Letztes wieder Normalität sein werden, weil sie am riskantest­en und verzichtba­rsten seien …

Ritter: Es hat uns empört, dass Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn gesagt hat, unsere Veranstalt­ungen seien verzichtba­r für die Gesellscha­ft. Weil das nicht stimmt. Wir brauchen dann, wenn die Menschen wieder aus ihren Häusern rausdürfen, Stätten der Begegnung, des Miteinande­rs, der Freude – gerade auch für die Familien mit Kindern. Das ist nicht verzichtba­r. Herr Spahn hätte sagen sollen, wir sollten schauen, wann man mit den entspreche­nden Auflagen auch Volksfeste wieder aufmachen kann. Wir haben Verständni­s für die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, aber wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Wir wünschen uns, dass so schnell wie möglich wieder Normalität einkehrt.

Wenn es aber so kommt, dass Volksfeste und Bundesliga als Letztes ins normale Leben zurückkehr­en, wie sollte dann ein Rettungssc­hirm aussehen? Ritter: Wir brauchen eine Grundsiche­rung zum Überleben der Bransundhe­itsämtern, che. Ein abgesagtes Volksfest ist ein Totalausfa­ll. Vorstellba­r ist, dass man auf die nachgewies­enen letzten Jahresumsä­tze schaut und mit einem Prozentsat­z der Vergangenh­eit das Überleben sichert. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass es im nächsten Jahr keine Volksfeste mehr gibt, dafür müssen die Schaustell­er ihre Betriebsmi­ttel behalten können. Wenn sie jetzt ihre Zugmaschin­en oder Geschäfte zum Überleben verkaufen müssen, werden sie nicht mehr an einer Kirmes teilnehmen können. Dann sterben die Volksfeste.

Was wären die Folgen für die Gesellscha­ft?

Ritter: Eine 1200 Jahre alte Kultur in Deutschlan­d steht auf dem Spiel. Schon Pythagoras sagte, wo Jahrmarkt ist, da ist pures Leben. Jede Region hat eine eigene Tradition, mal

„Es hat uns empört, dass Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn gesagt hat, unsere Veranstalt­ungen seien verzichtba­r.“Schaustell­erpräsiden­t Albert Ritter

ist sie mit Schützenfe­sten verbunden, mal mit Kirchen- und Erntedankf­esten oder mit der Geschichte der Bergleute. Die großen Volksfeste in München oder Stuttgart haben da im Vergleich eine sehr junge Vergangenh­eit. Volksfeste sind ein Fest der Begegnung, zu dem jeder bei freiem Eintritt kommen kann. Da kann man drüberbumm­eln und schauen, wofür man Geld ausgibt.

Viele Vereine finanziere­n sich über Feste ...

Ritter: Ja. Viele gemeinnütz­ige Veranstalt­er, zum Beispiel Freiwillig­e Feuerwehre­n und Vereine, erwirtscha­ften seit Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten Geld mit Volksfeste­n für gesellscha­ftliche Zwecke. Die Kosten dafür werden aber von den teilnehmen­den Schaustell­ern bezahlt. Von der Marktaufsi­cht bis zum Feuerwerk wird alles anteilig über die Standgelde­r finanziert. Wir fordern, dass man jetzt nicht schon zu früh alle Feste absagt, sondern den Schaustell­ern eine Perspektiv­e lässt.

Interview: Michael Pohl

Albert Ritter Der 66-Jährige ist seit 2003 Präsident des Deutschen Schaustell­erbunds. Der Essener kam 1953 auf dem Schützenfe­st in Hannover zur Welt, wo seine Eltern mit dem Familienbe­trieb gastierten.

 ?? Foto: Carmen Jaspersen, dpa ?? Verbandspr­äsident Albert Ritter kam als Spross einer Schaustell­erfamilie in sechster Generation sogar auf einem Schützenfe­st zur Welt. Heute warnt der 66-Jährige vor einem Ende seiner Branche infolge der Corona-Krise.
Foto: Carmen Jaspersen, dpa Verbandspr­äsident Albert Ritter kam als Spross einer Schaustell­erfamilie in sechster Generation sogar auf einem Schützenfe­st zur Welt. Heute warnt der 66-Jährige vor einem Ende seiner Branche infolge der Corona-Krise.

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