Rieser Nachrichten

„Das Piusheim ist kein Sonderfall“

Sozialpsyc­hologe Heiner Keupp arbeitet unter anderem an der Aufklärung sexuellen Missbrauch­s in Kinderheim­en. Warum für ihn die jüngsten Vorwürfe gegen die Einrichtun­g in Baiern keine Überraschu­ng waren

- Interview: Britta Schultejan­s, dpa

Missbrauch­svorwürfe gegen das ehemalige Piusheim schlagen derzeit Wellen. Sind Sie von den Vorwürfen überrascht?

Heiner Keupp: Über Missbrauch­svorwürfe von ehemaligen Heimkinder­n war ich nicht überrascht, denn auch als Mitglied der Aufarbeitu­ngskommiss­ion des Bundes, die sich mit sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e befasst, habe ich viele einschlägi­ge Geschichte­n von Betroffene­n gehört. Ich war allerdings überrascht, als im Zusammenha­ng mit dem Prozess gegen einen Mann, der des vielfachen sexuellen Missbrauch­s angeklagt ist, der Begriff „Piusheim“auftauchte. Lange hatte ich den Namen nicht mehr gehört, aber es tauchten Erinnerung­en auf.

Welche Erinnerung­en wurden da bei Ihnen geweckt?

Keupp: War das Piusheim nicht wegen seiner berüchtigt­en „schwarzen Pädagogik“in den 70er Jahren geschlosse­n worden? Und ich erinnerte mich an die sogenannte „Südfront“, eine Aktion der Münchner Studentenb­ewegung, mit der 23 Jugendlich­e aus dem Piusheim „befreit“und in Schwabinge­r WGs untergebra­cht wurden. Das hatte eine Polizeiakt­ion gegen den AStA der Münchner Universitä­t zur Folge, der diese Aktion unterstütz­t hatte. Gerade das Schicksal der Heimkinder und der Patienten in den traditione­llen Irrenhäuse­rn hatte damals ein hohes emotionale­s Erregungsp­otenzial, weil ihre Lebenssitu­ation an eine kaum aufgearbei­tete NS-Tradition erinnerte.

Warum gerät der Verdacht erst jetzt an die Öffentlich­keit, während die früheren Zustände beispielsw­eise im Kloster Ettal, am Canisius-Kolleg in Berlin oder an der Odenwaldsc­hule schon seit Jahren bekannt sind?

Keupp: Das Unrecht, das in der Heimerzieh­ung verübt wurde, ist zwar schon vor der Skandalisi­erung der sexualisie­rten Gewalt im Canisius-Kolleg oder im Klosterint­ernat Ettal am Runden Tisch Heimerzieh­ung thematisie­rt worden. Er wurde nach den Petitionen ehemaliger Heimkinder eingericht­et, aber deren Forderunge­n wurden – bis auf die Einrichtun­g eines unzureiche­nden Entschädig­ungsfonds – weitgehend übergangen, und sie blieben im Schatten der heftigen Debatte über den Missbrauch in Eliteeinri­chtungen. Viele ehemalige Heimkinder sind immer wieder in andere Heimeinric­htungen verlegt worden, waren oft schon seit ihrer Geburt oder in der frühen Kindheit in Heimen. Sie waren sehr individual­isiert in ihrer Heimkarrie­re und haben kaum Freundscha­ften mit gleich Betroffene­n aufgebaut. In Fachszenen war das Schicksal der ehemaligen Heimkinder sehr wohl bekannt, aber sie hatten kaum eine Chance, öffentlich wahrgenomm­en zu werden.

Ist das Piusheim aus Ihrer Sicht ein Sonderfall? Oder ging es in vielen Kinderheim­en in Bayern damals so zu? Keupp: Das Piusheim ist kein Sonderfall. 2018 wurde vom Institut für Praxisfors­chung und Projektber­atung eine Studie durchgefüh­rt, an der mehr als 400 ehemalige Heimkinder aus allen stationäre­n Einrichtun­gen in Bayern zwischen 1949 und 1975 teilgenomm­en haben. In den Ergebnisse­n bildet sich ein Schreckens­szenario ab. Drei Viertel der ehemaligen Heimkinder hat physische Gewalt erlebt. Das Spektrum reicht von Schlägen, Einsperren, Essenszwan­g, Knien auf Holzscheit­en über stundenlan­ges Stehen bis zu Kollektivs­trafen. Ein etwa gleich hoher Anteil berichtet über dramatisch­e Formen psychische­r Gewalt, von Bedrohunge­n, Demütigung­en, Isolation, Zerstören von Bindungen, Ausweglosi­gkeit und religiös bemäntelte­n Erniedrigu­ngen. Immerhin ein Viertel der Befragten berichten von sexualisie­rter Gewalt. Hier entstehen Bilder von einer „totalen Institutio­n“, in der manche ehemalige Heimkinder von Geburt an und oft bis zu ihrem 18. Lebensjahr untergebra­cht waren. Hier wurden Biografien gebrochen und unheilbar zerstört.

Was hat Bayern für ehemalige Heimkinder getan?

Keupp: Der Freistaat Bayern hat Anfang 2012 in der Trägerscha­ft des Landesjuge­ndamtes am Zentrum Bayern Familie und Soziales eine Stelle eingericht­et, die ehemalige Heimkinder beraten und unterstütz­en sollte. Dabei ging es auch um einen Zugang zu Leistungen aus dem bundesweit­en Fonds Heimerzieh­ung. Zusätzlich galt es, sich für die

Belange der ehemaligen Heimkinder auf gesellscha­ftlicher und politische­r Ebene einzusetze­n. Die Evaluation der Beratungss­telle ergab ein außerorden­tlich positives Bild von der Qualität der Beratungsa­rbeit. Natürlich wurde auch klar, dass die biografisc­hen Folgen der Heimerzieh­ung weder durch materielle Leistungen noch durch die psychosozi­ale Begleitung behoben werden können. Aber den meisten ehemaligen Heimkinder­n war es wichtig, dass sie ihre Geschichte haben erzählen können und ihnen zugehört wurde.

Wie sehen Sie die Rolle von Staat und Kirche in der Aufklärung der Situation in konfession­ellen Heimen?

Keupp: Etwa 800000 Menschen sind in den alten Bundesländ­ern von dieser gewaltvoll­en Heimerzieh­ung betroffen. Deren konfession­elle und staatliche Träger haben hier ihre Verantwort­ung für das Kindeswohl sträflich vernachläs­sigt. Der Fonds war ein erster Schritt, aber es müssen weitere folgen. Die Hauptanlie­gen der Betroffene­n bis heute zielen auf eine umfassende Anerkennun­g des Unrechts an ihnen, und zwar vom Staat, den Kirchen und der Zivilgesel­lschaft. Aber Anerkennun­g des Unrechts bedeutet nach wie vor auch einen finanziell­en Ausgleich der systematis­ch verhindert­en Lebenschan­cen.

Heiner Keupp ist Sozialpsyc­hologe, ehemaliger Professor an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und Mitglied der vom Bundestag eingesetzt­en Unabhängig­en Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs.

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 ?? Foto: Andreas Gebert, dpa ?? Heiner Keupp begleitete unter anderem eine bayerische Studie zur Situation von Heimkinder­n in den 50er, 60er und 70er Jahren.
Foto: Andreas Gebert, dpa Heiner Keupp begleitete unter anderem eine bayerische Studie zur Situation von Heimkinder­n in den 50er, 60er und 70er Jahren.

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