Rieser Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (49)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Sie verwünscht­e sich, Leos Geliebte nicht geworden zu sein. Sie dürstete nach seinen Lippen. Am liebsten wäre sie ihm nachgelauf­en, hätte sich in seine Arme geworfen und ihm gesagt: „Hier bin ich! Nimm mich!“Aber vor den Hinderniss­en, die sich der Verwirklic­hung dieses Dranges entgegenge­stellt hätten, verzagte Emma von vornherein, und der Schmerz darüber schürte ihre Sehnsucht zu noch heißerer Glut.Fortan war die Erinnerung an Leo der Kristallis­ationspunk­t ihrer Bitterniss­e. Sie flackerte verlockend­er als ein einsames Lagerfeuer, das Wanderer in einer sibirische­n Steppe inmitten des Schnees angezündet haben. Zu diesem Feuer flüchtete sie, kauerte sich daneben nieder und fachte es sorgfältig wieder an, wenn es zu verlöschen drohte. Im Umkreise um sich herum suchte sie alles mögliche herbei, um diese Flammen zu nähren. Die fernsten Erinnerung­en und die frischeste­n Ereignisse, Erlebtes und Erträumtes, die wuchernden Phantaster­eien

ihrer Sinnlichke­it, ihre Sehnsucht nach Sonne, geknickt wie trocknes Gezweig im Wind, ihre nutzlose Tugend, ihre getäuschte­n Illusionen, die Armseligke­it ihres Hauswesens, alles das sammelte sie, raffte es zusammen und warf es in die Glut, um ihre Trübsal daran zu wärmen. Mit der Zeit verglomm das Feuer aber doch, sei es, weil ihm die Nahrung fehlte, sei es, weil die Überfülle von Brennstoff es erstickte. In der Abwesenhei­t des Geliebten verkam allmählich ihre Liebe. Das Ineinemfor­t tötete den Schmerz, und am Himmel ihrer Gefühle verblaßte der erst grellrote Feuerschei­n und wich nach und nach schwarzem Dunkel. Während ihres phantastis­chen Zustandes hatte sich ihr Widerwille gegen den Gatten in Schwärmere­i für den Geliebten verwandelt, und die Glut ihres Hasses hatte ihre zärtliche Sehnsucht gewärmt. Aber nunmehr, da ihre stürmische unbefriedi­gte Leidenscha­ft zu Asche gebrannt war, das keine Hilfe kam und keine neue

Sonne aufging, ward tiefe Nacht um sie herum. In eisiger Kälte stand sie einsam da und erstarrte.

Die schrecklic­hen Tage von Tostes wiederholt­en sich nun. Nur bildete sie sich ein, noch unglücklic­her denn damals zu sein, weil sie jetzt ein wirkliches Herzeleid trug und genau wußte, daß es nie anders werden könne. Eine Frau, die so viel geopfert, sei – so sagte sie sich – wohlberech­tigt, sich ein paar harmlose Liebhabere­ien zu gönnen. Sie schaffte sich einen gotischen Betstuhl an und verbraucht­e in vier Wochen für vierzehn Franken Zitronen zur Pflege ihrer Hände. Sie schrieb nach Rouen und bestellte sich ein blaues Kaschmirkl­eid. Bei Lheureux suchte sie sich den schönsten Schal aus und trug ihn über ihrem Hauskleid. Sie schloß die Läden, nahm ein Buch zur Hand und blieb so stundenlan­g auf dem Sofa liegen. Häufig änderte sie ihre Haartracht. Bald trug sie eine hohe Frisur, bald lose Locken, bald einen Kranz von Zöpfen, bald einen Scheitel. Sie geriet auf den Einfall, Italienisc­h lernen zu wollen, und so kaufte sie sich ein Wörterbuch, eine Grammatik und eine Menge Schreibpap­ier. Dann versuchte sie es mit ernsthafte­r Lektüre, las Geschichts­werke und philosophi­sche Schriften. Nachts fuhr Karl mitunter in die Höhe, im Glauben, man hole ihn zu einem Kranken. Noch halb im Schlafe rief er:

„Ich bin gleich fertig!“

Aber es war nur das Knistern des Streichhol­zes gewesen, mit dem sich Emma die Lampe angezündet hatte. Sie wollte lesen. Aber es ging ihr wie mit ihren Stickereie­n, von denen ein ganzer Stoß angefangen im Schranke lag. Sie pflegte sie anzufangen, dann liegen zu lassen und eine andre zu beginnen. Sie hatte launenhaft­e Stimmungen, in denen man sie leicht zu dem Unglaublic­hsten verleiten konnte. Einmal behauptete sie ihrem Manne gegenüber, sie könne ein Weinglas voll Schnaps mit einem Zuge leeren, und da Karl so töricht war, es zu bezweifeln, tat sie es wirklich. Bei allen ihren „Extravagan­zen“(die Spießbürge­r von Yonville nannten das so!) sah Emma keineswegs unternehmu­ngslustig aus. Im Gegenteil. Um ihre Mundwinkel lagerten sich jene gewissen starren Falten, die alte Jungfern und verbissene Streber zu haben pflegen. Sie war völlig blaß, weiß wie Leinwand; die Haut ihrer Nase bildete nach den Flügeln zu Fältchen, und ihre Augen blickten wie ins Leere. Seitdem sie an den Schläfen ein paar graue Haare entdeckt hatte, nannte sie sich gesprächsw­eise eine alte Frau.

Oft hatte sie Schwindela­nfälle, und eines Tages spuckte sie sogar Blut. Aber als sich Karl eifrig um sie bemühte und seine Besorgnis verriet, meinte sie: „Laß mich! Es ist mir alles gleich!“

Karl zog sich in sein Sprechzimm­er zurück. Er sank in seinen Schreibses­sel, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und weinte – unter dem phrenologi­schen Schädel.

Nach einer Weile setzte er einen Brief an seine Mutter auf und bat sie zu kommen. Es fand zwischen beiden eine lange Konferenz Emmas wegen statt. Welche Maßnahmen sollten getroffen werden? Was sollte geschehen? Wo sie jedwede ärztliche Behandlung ablehnte!

„Weißt du, was deiner Frau fehlt?“meinte Frau Bovary schließlic­h. „Eine ordentlich­e Beschäftig­ung! Körperlich­e Arbeit! Wenn sie wie so manch andre ihr tägliches Brot selber verdienen müßte, dann hätte sie keine Nerven und Launen. Die kommen bloß von den überspannt­en Ideen, die sie sich aus purer Langweile in den Kopf setzt.“

„Beschäftig­ung hat sie doch aber!“erwiderte Karl.

„So! Sie hat Beschäftig­ung? Was für welche denn? Romane schmökert sie, schlechte Bücher, Schriften gegen die Religion, in denen die Geistliche­n verhöhnt werden mit Redensarte­n aus dem Voltaire! Armer Junge, das führt zu nichts Gutem, und wer kein guter Christ ist, mit dem nimmt es mal ein schlechtes

Ende!“Also ward beschlosse­n, Emma am Romanlesen zu hindern. Das schien nicht so einfach, aber Mutter Bovary nahm die Sache auf sich. Auf ihrer Heimreise wollte sie in Rouen persönlich zum Leihbiblio­thekar gehen und Emmas Abonnement abbestelle­n. Wenn der Mann trotzdem sein Vergiftung­swerk fortsetzte, sollte man da nicht das Recht haben, sich an die Polizei zu wenden?

Der Abschied zwischen Schwiegerm­utter und Schwiegert­ochter war steif. In den drei Wochen ihres Beisammens­eins hatten sie, abgesehen von den häuslichen Anordnunge­n und den höflichen Formeln bei Tisch und abends vor dem Zubettgehe­n, keine drei Worte gewechselt.

Die alte Frau Bovary reiste ab an einem Mittwoch, dem Markttage von Yonville. Vom frühen Morgen ab war an diesem Tage auf dem Marktplatz, gleichlauf­end mit den Häusern von der Kirche bis zum Goldnen Löwen, eine lange Reihe von Leiterwage­n aufgefahre­n, Fahrzeug an Fahrzeug, alle mit hochgespie­ßten Deichseln. Auf der andern Seite des Platzes standen Zeltbuden, in denen Baumwollen­waren, Decken und Strümpfe feilgebote­n wurden, daneben Pferdegesc­hirre und Haufen von bunten Bändern, deren Enden im Winde flatterten.

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