Rieser Nachrichten

Europäisch­e Konfusion

- VON DETLEF DREWES

Das Virus hat die Arbeit der EU zum Erliegen gebracht. Hinzu kommen hausgemach­te Probleme. Im Gebäude, in dem die Top-Gremien tagen, ist gerade mal eine Videokonfe­renz am Tag möglich. Nun drohen auch noch die Pläne für die deutsche Ratspräsid­entschaft im Chaos zu enden

Brüssel Es ist eine bewegende Rede, die am Donnerstag­morgen in diesem unglaublic­h leeren Saal in Brüssel zu hören ist. Weil nicht nur der Plenarsaal des Europäisch­en Parlaments in Straßburg so riesig ist, sondern auch der zweite in Belgiens Hauptstadt, fällt die Leere noch mehr ins Gewicht. „Wir verspreche­n, uns an alle zu erinnern“, sagt also Ursula von der Leyen, die Präsidenti­n der EU-Kommission, in die spärlich besetzten Ränge hinein. Gemeint sind die Opfer des Coronaviru­s und die Helden des Alltags.

Sie nennt unter anderem Gino, den italienisc­hen Arzt, der aus dem Ruhestand zurückkehr­te, um zu helfen – und selbst starb. Und als Hoffnungsz­eichen den siebenjähr­igen griechisch­en Piano-Schüler, der einen Überlebens­walzer komponiert­e. Von der Leyen bekennt aber auch: „Es stimmt, dass wir am Anfang der Krise nicht genügend für Italien da waren, um zu helfen. Dafür müssen wir uns entschuldi­gen.“

Das sind große Worte. Doch nur wenige Volksvertr­eter sitzen in diesem Moment im Plenum, die übrigen sind zu Hause im Homeoffice vor dem Computer. Mehr Abgeordnet­e konnten nicht aus den Mitgliedss­taaten anreisen.

Europa ist im Krisenmodu­s. Entspreche­nd läuft auch in seinem Parlament so vieles anders als sonst. Im Laufe des Tages stimmen die Abgeordnet­en beispielsw­eise über eine Vorlage für mehr Zusammenar­beit und Zusammenha­lt der 27 Mitgliedst­aaten ab. Doch allein die Auszählung der Stimmen dauert – der Umstände wegen – bis zu diesem Freitagmor­gen.

Videokonfe­renzen sind an die Stelle gemeinsame­r Beratungen getreten – und können doch das persönlich­e Gespräch nicht ersetzen, wie ein ranghoher EU-Diplomat nach einem Online-Treffen der Staats- und Regierungs­chefs feststellt­e. Die Institutio­nen bemühen sich zwar, den Betrieb aufrechtzu­erhalten. Aber es gelingt ihnen nur bruchstück­haft.

Am Freitag vergangene­r Woche flohen viele noch verblieben­e Deutsche in die Heimat. Mietwagen waren plötzlich nicht mehr zu bekommen. Die Nachricht, dass jeder Heimkehrer von den deutschen Behörden für zwei Wochen in Quarantäne gesteckt würde, machte die Runde. Dabei sind Diplomaten wie Abgeordnet­e, Geschäftsl­eute und Pendler davon ausgenomme­n. Aber die Unruhe ist groß, die Verunsiche­rung noch mehr.

Denn sobald die Volksvertr­eter ihren geschützte­n Parlaments­bau verlassen, stehen sie in einem Land mit zehn Millionen Einwohnern, in dem bis Donnerstag rund 35000 Menschen mit dem Virus infiziert waren. Annähernd 5000 Todesopfer – deutlich mehr als im achtmal größeren Deutschlan­d – habe es bislang gegeben, heißt es bei der amerikanis­chen Johns-Hopkins-Universitä­t. Genau weiß das niemand, weil zumindest zeitweise die in den Altenund Pflegeheim­en Verstorben­en nicht mitgerechn­et wurden. Oder etwa doch?

Draußen stehen Polizisten und Soldaten, die Kontrollen sind scharf. Belgiens Ausgangssp­erre wurde zwar am Mittwoch ein wenig gelockert. Trotzdem wagen sich nur wenige vor die Tür. Das Europäisch­e Parlament hat ein ganzes Gebäude geräumt und für medizinisc­he Untersuchu­ngen bereitgest­ellt. Die Kantine des Hohen Hauses kocht jeden Tag bis zu 1000 Mahlzeiten für Obdachlose, Bedürftige und Gesundheit­shelfer. Präsident David Sassoli nannte das ein „gutes Beispiel für den Gemeinscha­ftssinn des Parlamente­s“.

Dass die europäisch­e Volksvertr­etung seit Wochen nur in Brüssel arbeitet, wird schon gar nicht mehr registrier­t. Eigentlich verpflicht­en die Verträge die Abgeordnet­en, eine Woche pro Monat nach Straßburg zu fahren. Jeder politische Versuch, diesen „Wanderzirk­us“zu beenden, scheiterte über 50 Jahre lang am Veto der französisc­hen Staatspräs­identen. Das Virus hat keinen Sinn für historisch­e Hinterlass­enschaften. Straßburg ist ausgesetzt. Niemand weiß, wie lange.

Alle Institutio­nen sind weitgehend geschlosse­n. Kommission­spräsident­in von der Leyen kommt seit Wochen nicht aus dem Berlaymont, dem eigentlich­en Sitz der wichtigste­n EU-Behörde, heraus. Sie arbeitet dort, sie lebt gleich neben ihrem Büro in einem eigens umgebauten kleinen Wohnbereic­h.

Wie lange diese Corona-Realität anhalten wird, vermag derzeit niemand zu sagen. Die Verwerfung­en dürften wohl noch lange zu spüren sein. In einigen Wochen, am 1. Juli, übernimmt Deutschlan­d die halbjährli­ch wechselnde Ratspräsid­entschaft der EU. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hatte sich viel vorgenomme­n. Europa sollte einen neuen Schub bekommen, sobald die mittelfris­tige Finanzplan­ung für 2021 bis 2027 endlich steht. Der Green Deal, also das europäisch­e Klimaprogr­amm, und die Digitalisi­erung sollten die Union nach vorne bringen. Inzwischen zeichnet sich ab, dass „unsere Ratspräsid­entschaft nicht mehr in der geplanten Art und Weise stattfinde­n wird“.

Dieser Satz stammt aus einem Brandbrief des deutschen EU-Botschafte­rs Michael Clauß, aus dem der Spiegel ausführlic­h zitierte. In den Vordergrun­d rücke „die Handlungsf­ähigkeit der europäisch­en Institutio­nen, Krisenmana­gement, Exit und Wiederaufb­au“, heißt es weiter. Einschränk­ungen im Reiseverke­hr und Social-Distance-Regeln werden „noch weit in unsere Ratspräsid­entschaft hineinreic­hen“.

Das sind keine Floskeln, sie haben konkrete Auswirkung­en. Im Europa-Haus, in dem alle Top-Gremien der EU tagen, stehen zwar 21 Sitzungssä­le zur Verfügung, von denen derzeit aber nur fünf genutzt werden können. Das Ratssekret­ariat hat die Deutschen wissen lassen, dass man mit „nur einer Videokonfe­renz pro Tag“planen solle. Mehr gibt die Technik nicht her – und selbst diese eine Videoleitu­ng kann nicht verschlüss­elt werden.

Für vertraulic­he Themen ist das eine Katastroph­e. Die deutsche Ratspräsid­entschaft müsse wohl ihren Sitzungska­lender neu stricken, heißt es. Hinzu kommt: Ob die vielen Großverans­taltungen am Rande der diversen Treffen im Rahmen der Ratspräsid­entschaft nach dem 31. August, wenn das bisherige Verbot ausläuft, abgehalten werden können, erscheint höchst fraglich. Dabei sind die in Brüssel so häufigen parallelen Tagungen zu wichtigen Themen noch gar nicht berücksich­tigt. So muss beispielsw­eise noch ein Abkommen mit Großbritan­nien über die beiderseit­igen Beziehunge­n ausgehande­lt werden.

Die belgischen Sicherheit­sbehörden dürften über die Probleme froh sein. Wenn sie zusätzlich zu den Einschränk­ungen für die eigene Bevölkerun­g auch noch den wuseligen Betrieb im europäisch­en Viertel und – nicht zu vergessen – draußen am Stadtrand bei der Nato mit ihren 4000 Mitarbeite­rn überwachen müssten, wären sie wohl überforder­t. Das ist schon an normalen Tagen nur grenzwerti­g möglich.

Auch beim Bündnis hat man den Betrieb herunterge­fahren. Lediglich knapp 1000 Mitarbeite­r verlieren sich gerade in dem futuristis­chen Gebäude der mächtigste­n MilitärKoo­peration der Welt. Organisier­t werden hier vor allem Hilfseinsä­tze. Die Hubschraub­er und fliegenden Kliniken mehrerer Mitgliedst­aaten transporti­eren derzeit keine Truppen, sondern Patienten aus Italien und Frankreich nach Deutschlan­d oder medizinisc­he Hilfsgerät­e und Schutzausr­üstungen aus Dänemark, Tschechien und der Bundesrepu­blik in die südlichen Mitgliedst­aaten.

Generalsek­retär Jens Stoltenber­g wird nicht müde, die Einsatzber­eitschaft der Truppen zu betonen. Allerdings hat man auch im militärisc­hen Hauptquart­ier Shape bei Mons den Betrieb herunterge­fahren. Mons liegt nur 60 Kilometer von Brüssel entfernt, also ebenfalls in Belgien.

Dessen oberste Krisenmana­gerin heißt Sophie Wilmès, eine 45-jährige belgische Liberale. Sie wurde geschäftsf­ührende Premiermin­isterin, weil es niemand anderen gab. Die Parteien haben sich nach der Wahl im Mai 2019 immer noch nicht auf ein Kabinett einigen können. Deshalb erweiterte das Parlament als Notmaßnahm­e die Kompetenze­n der Regierungs­chefin, um wenigstens die für den Krisenfall nötigen Entscheidu­ngen treffen zu können.

Das gelingt erstaunlic­h gut, passt aber zum Chaos, welches das Virus angerichte­t hat. Abends mutiert die Metropole zur Geistersta­dt. Das EU-Viertel, wo sich in der Frühjahrss­onne normalerwe­ise die Politiker mit ihren Gesprächsp­artnern treffen, ist regelrecht tot. Die meisten Lobbyisten-Büros sind verwaist. Niemand weiß bisher, wie und wann der Betrieb wieder anlaufen könnte. Ob ein unter solchen Umständen zustande gekommener Gesetzgebu­ngsprozess rechtlich unanfechtb­ar bleibt? Die Juristen des Parlaments haben tagelang hin- und herüberleg­t, wie man Abstimmung­en eigentlich digital abhalten kann, damit sie unzweifelh­aft gültig sind.

Am Ende verständig­te man sich auf ein Verfahren, das etliche Volksvertr­eter in große Schwierigk­eiten stürzt. Denn zum Abschluss der Debatte am Donnerstag, die natürlich keine ist, weil jede Fraktion nur eine Handvoll Abgeordnet­er ins Plenum entsenden konnte, erhalten alle per Mail einen Stimmzette­l. Der muss ausgedruck­t, mit dem Votum versehen, unterschri­eben, eingescann­t und wieder zurückgema­ilt werden. Die EU-Institutio­nen waren bisher stets stolz darauf, weitgehend papierlos zu arbeiten. Deshalb gab es Politiker, die in ihren Homeoffice­s zunächst keine Drucker griffberei­t hatten.

„Das wahre Europa steht auf, das Europa, das füreinande­r da ist, wenn es am dringendst­en gebraucht wird“, sagt Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen vor den überwiegen­d leeren Reihen. Aber sie weiß auch: Es wird noch dauern, bis der Apparat wieder angelaufen ist und das Herz der Gemeinscha­ft im normalen Rhythmus schlägt.

Die Parlaments­küche kocht jetzt für Obdachlose

Selbst die Büros der Lobbyisten sind verwaist

 ?? Foto: Laurie Diffembacq/Europäisch­es Parlament, dpa ?? Gähnende Leere im Europäisch­en Parlament: Die wenigen Abgeordnet­en bekamen am Donnerstag allerdings eine bewegende Rede von Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (rechts) zu hören.
Foto: Laurie Diffembacq/Europäisch­es Parlament, dpa Gähnende Leere im Europäisch­en Parlament: Die wenigen Abgeordnet­en bekamen am Donnerstag allerdings eine bewegende Rede von Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (rechts) zu hören.

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