Rieser Nachrichten

„Andere Länder sind uns weit voraus“

Viele Corona-Pressekonf­erenzen, die im Fernsehen zu sehen sind, werden neuerdings in Gebärdensp­rache übersetzt – in Bayern allerdings nicht. Das ist traurig, sagt eine Expertin

-

Frau Sterzik, wie sieht die Gebärde für das Coronaviru­s aus?

Sarah Sterzik: Rechtshänd­er, bei denen die rechte Hand dominiert, formen die linke Hand zu einer Faust, der Daumen ist außen – ähnlich wie die Geste für das Fass bei Stein, Schere, Papier. Die rechte Hand liegt flach auf und dreht sich. Das heißt Corona. Für Virus nimmt man beide Hände rechts und links an den Kopf, die Zeigefinge­r sind ausgestrec­kt wie zwei kleine Teufelshör­ner. Dann bewegen sich die Zeigefinge­r nach vorne.

Wie entsteht für so ein Wort die Gebärde?

Sterzik: Also zunächst einmal wird das Wort buchstabie­rt. Und dann entwickeln sich oft ganz unterschie­dliche Gebärden für einen Begriff. Die erste mir bekannte Gebärde für Corona war, dass man beide Hände auf die Brust legt, wie für „atmen“auch. Vielleicht, weil die Krankheit vor allem die Lunge betrifft. Aber dann hat sich die andere, beschriebe­ne Gebärde durchgeset­zt. Ganz wichtig ist dabei, dass die Gehörlosen die Gebärden vorgeben und sie ihnen nicht von außen auferlegt werden. Aber genau wie die gesprochen­e Sprache wandelt sich auch die Gebärdensp­rache ständig. Es gibt auch Dialekte. In München gibt es andere Gebärden als in Augsburg.

Gerade lässt sich beobachten, dass immer, wenn Bundeskanz­lerin Angela Merkel, Gesundheit­sminister Jens Spahn oder Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, eine Pressekonf­erenz halten, diese auch in Gebärdensp­rache übersetzt wird. Das scheint eine relativ neue Entwicklun­g zu sein. Täuscht dieser Eindruck? Sterzik: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Zuvor wurde es leider oft vernachläs­sigt, Reden zu übersetzen oder zu untertitel­n. Dafür musste erst eine Petition gestartet werden. Viele gehörlose Senioren bekommen von den Corona-Maßnahmen nichts mit, weil kaum Pressekonf­erenzen der Ministerpr­äsidenten in Gebärdensp­rache übersetzt werden und viele ausschließ­lich im Internet zu sehen sind. Um diese Risikogrup­pe zu schützen, müssten alle Pressekonf­erenzen vor Ort in Gebärdensp­rache übersetzt und im linearen Fernsehen ausgestrah­lt werden. Andere Länder sind uns da weit voraus.

Glauben Sie, dass sich nach der Corona-Krise daran etwas ändern wird? Sterzik: Ich hoffe es zumindest. Ich hoffe, dass die Gesellscha­ft jetzt darauf aufmerksam wird, dass Ansprachen normalerwe­ise nicht übersetzt werden. Dass so ein Bewusstsei­n entsteht. Die Gebärdensp­rache ist ja seit 2002 offiziell anerkannt, und die Bundesregi­erung hat auch die UNBehinder­tenrechtsk­onvention unterzeich­net, wonach Gebärdensp­rache eigentlich Standard sein müsste.

Aber das ist nicht der einzige Punkt, an dem die Inklusion noch hakt.

Wie meinen Sie das?

Sterzik: Außer im öffentlich-rechtliche­n Rundfunk sind Filme zum Beispiel selten untertitel­t. Auch in Kinos nicht. Manche Kinos bieten zwar an einem Tag in der Woche Filme mit Untertitel­n an, aber das heißt: Ein gehörloser Mensch kann sich nicht frei aussuchen, wann er ins Kino geht. Dabei bedeutet Inklusion doch, dass alle Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderun­g – gleichbere­chtigt an der Gesellscha­ft teilnehmen können.

Die Pressekonf­erenzen des bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder und seiner Ministerko­llegen werden nicht in Gebärdensp­rache übersetzt. Sind die Bayern beim Thema Inklusion besonders rückständi­g?

Sterzik: Die Reden von Markus Söder sind ausschließ­lich im Internet mit Gebärdensp­rache zu sehen. Viele gehörlose Senioren haben kein Internet. Sie gehören zur Risikogrup­pe und bekommen von seinen Maßnahmen nichts mit. Es ist traurig, dass die Forderunge­n der Gehörlosen in der Regierung auf taube Ohren stoßen.

Welche Länder würden Sie denn als positive Beispiele nennen?

Sterzik: Die USA zum Beispiel. Dort wird schon lange alles übersetzt. Es gibt dort auch die Gallaudet University in Washington D.C. – eine eigene Uni für gehörlose und schwerhöri­ge Studenten. Davon sind wir weit entfernt. Auch in den skandinavi­schen Ländern läuft die Inklusion in vielen Bereichen besser. Und in Frankreich und Italien wurden die Ansprachen zur Corona-Krise ebenfalls von Anfang an von einem Gebärdendo­lmetscher begleitet.

Sie selbst sind seit Oktober vergangene­n Jahres Gebärdendo­lmetscheri­n. Warum haben Sie sich für die Ausbildung entschiede­n?

Sterzik: Ich habe an der LMU in München Hörgeschäd­igtenpädag­ogik studiert und war ehrlicherw­eise schockiert, dass Gebärdensp­rache dort nur eine so kleine Rolle spielt. Ich hatte im ganzen Studium vielleicht drei Kurse. Die Professore­n sind der Meinung, die gesprochen­e Sprache sei vorherrsch­end und die Kinder sollen sich daran anpassen. Nach dem Studium war ich in Elternzeit und habe überlegt, was ich währenddes­sen sinnvolles tun kann. Und dann habe ich mich zur Gebärdendo­lmetscheri­n weiterbild­en lassen. Interview: Christina Heller

Sarah Sterzik ist 31 Jahre alt, lebt in Augsburg und ist seit Oktober vergangene­n Jahres Gebärdendo­lmetscheri­n.

 ?? Foto: John Macdougall/afp, dpa ?? Inzwischen ein gewohntes Bild: Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, bei einer seiner regelmäßig­en Pressekonf­erenzen – und neben ihm eine Gebärdendo­lmetscheri­n.
Foto: John Macdougall/afp, dpa Inzwischen ein gewohntes Bild: Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, bei einer seiner regelmäßig­en Pressekonf­erenzen – und neben ihm eine Gebärdendo­lmetscheri­n.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany