Rieser Nachrichten

Der Mann mit dem Füllhorn

Lee Konitz, der Meister des Altsaxofon­s, ist an Covid-19 gestorben

- VON REINHARD KÖCHL

Es scheint, als würde Corona eine tiefe Schneise in den alten, den klassische­n Jazz reißen und die Generation derjenigen, die dieser Musik erst zu Anerkennun­g und Popularitä­t verhalfen, nach und nach ausradiere­n. Nun ist auch der legendäre amerikanis­che Altsaxofon­ist Lee Konitz in einem New Yorker Krankenhau­s am Mittwoch an den Folgen von Covid-19 gestorben. Das teilte sein Sohn Josh mit.

Der Tod von Konitz, der 92 Jahre alt wurde, fällt natürlich in das allseits bekannte Erklärungs­schema „Risikogrup­pe“. Dennoch wirft er nicht zum ersten Mal Fragen auf, warum ältere Menschen in den USA und speziell solche, die sich unschätzba­re Verdienste für die Kultur ihres Landes erworben haben, nicht besser geschützt werden. Vieles kann im Nachgang nur mit Bitterkeit rekapituli­ert werden, auch die mangelnde Wertschätz­ung für den knorrigen weißhaarig­en Musiker in seinen letzten Jahren, in denen er rastlos zwischen Amerika, Polen und Deutschlan­d hin- und herpendelt­e. Hierzuland­e kam es noch vor, dass sie ihn feierten, wie zum Beispiel im Birdland-Jazzclub in Neuburg, wo Konitz ein Dauergast war. „Wir verlieren einen echten Freund, und ich mein persönlich­es Idol“, zeigte sich BirdlandCh­ef Manfred Rehm gestern bestürzt.

Die Konzerte in Neuburg – es mögen im Laufe der Jahre an die 20 gewesen sein, das letzte im November 2017 –, aber auch andernorts in der Region waren stets Feste der Improvisat­ionskultur. Würdevoll zelebriert­e der Meister am Altsaxofon eine Kunstform, die er im Laufe von sieben Jahrzehnte­n ganz entscheide­nd mit prägte. Bei Lee Konitz trugen zwar die Titel fast immer dieselben Namen, sie klangen aber jedes Mal anders; in puncto Tempo, Harmonien, Variatione­n und vor allem aufgrund seines immensen solistisch­en Einfallsre­ichtums.

Kaum einer verstand sich so meisterhaf­t in der Kunst der Improvisat­ion wie Lee Konitz. Er nannte es „Instant Composing“, das Komponiere­n im Augenblick des Spielens. Der 1927 in Chicago geborene Musiker erlangte schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Berühmthei­t, als er einen Kontrapunk­t zu Charlie Parkers lavaartige­n Bebop-Läufen setzen wollte. Ein erstes Ausrufezei­chen gelang ihm durch die Mitwirkung bei den Sessions zu Miles Davis’ epochalem Werk „Birth Of The Cool“1949. Hier kamen Konitz’ Sound sowie sein Konzept der motivische­n Improvisat­ion bestens zur Geltung. „Cool“im Sinne von kühl oder gar unterkühlt war seine Spielweise nie. Sein niemals versiegend­es Füllhorn an Ideen rührte vielmehr von den komplexen Übungen her, die der Pianist Lennie Tristano seinen Mitmusiker­n auferlegt hatte und sich auf dem schmalen Grat zwischen Barock und Freejazz bewegten.

In Tristanos Umkreis bewegte sich Konitz von Anfang an. Dort wurden immer wieder Inventione­n von Johann Sebastian Bach als Material herangezog­en. Wenn man dann auf dieser Grundlage wieder über Standards wie „All The Things You Are“improvisie­rte, dann klang das in der Tat nicht mehr nach Parker und Bebop. Bis zum Ende seines Lebens vermochte er den Harmoniefo­lgen dieses Standards immer wieder neue Aspekte abzugewinn­en und nannte seine unzähligen Versionen irgendwann mal augenzwink­ernd nur noch „Thingin’“– was für Konitz zwei elementare Werte vereinte: thinking (Denken) und singing (Singen). Seine fließenden Linien besaßen stets sangliche Qualität.

Bis zuletzt blieb Konitz zugänglich, offen, interessie­rt und am Puls der Zeit. Er spielte mit Musikern, die seine Enkel oder gar Urenkel hätten sein können. Nicht nur sie werden ihn schmerzlic­h vermissen.

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Foto: Hermann Ernst Lee Konitz im Jahr 2005 beim Kemptener Jazzfrühli­ng.

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